Das Ego im Feuer (3)

Das war knapp. Ein Auto von links, eins von rechts, und ich mittendurch. Reifen quietschen, Staub frisst sich in die Augen. Im Gras meckert eine Ziege. Sollte ich hier verroecheln, moechte ich noch Luft haben fuer einen Wunsch: Wasser! Voda, poshaluista! Dai bog!
Die vielen Kreuze an den Strassen; mit Kunstblumen geschmueckt, rosarot zumeist. Ich blicke sie nur fluechtig an, ich will nicht an den Tod denken; der Schnitter soll noch 47 Jahre warten. Und doch denke ich taeglich an ihn, denn die Zeit ist endlich und jede verschenkte Stunde ein Verlust. Ich lebe schnell und langsam zugleich, und je aelter ich werde, desto dankbarer, dies alles erlebt zu haben. Mein Leben ist seit langem in der Waage, auch wenn ich mich nicht mit Hohngelaechter wach halte.
Dankbar – ob der vielen Menschen, die ich traf und lieben konnte. Ja, ich liebe und habe geliebt, obwohl, wie mein Freund Alexander Sergejevitsh so weise auf der diesjaehrigen Wandzeitung deklarierte, die Liebe schmerzhafter ist als der Tod. Hart am Rande zum Delirium – so muss man schreiben und denken und empfinden; mit der Schlinge um den Hals.
Wie reich ich bin! – solange ich Freunde haben, die an mich glauben. Ein Pfarrer, ein Bruder Hoelderlins, schenkte mir dies Wort zum Abschied in Berlin – Du wirkst so reich! (Dein Reich ist nicht von dieser Welt – doch das andere gehoert zu dieser Welt.) Wie es moeglich ist, dass ich nicht verdorre, frage ich mich selbst. Ich habe das Niederste und Gemeinste und Boeseste ueberlebt, weil ich immer geglaubt habe, dass es das Gute gibt; dass, wie mein zehnjaehriger Schueler sagt, Plato kein Ideal des Boesen entwickeln konnte, weil es dem Lebenswillen widersprochen haette. Was lebt, will sich helfen und sich ehren, auch wenn die Kraft dafuer oft fehlt.
Vielleicht habe ich nur drei durch und durch boese und hassenswerte Menschen kennengelernt – einen, der seinen Soehnen die Nieren hart pruegelte; ausserdem den Herrn Molch, ein GUMMIRUECKEN MIT GOLDENEM HINTERN, ein moderner Untertan, ein aalglatter „68“, der in seiner Jugend davon getraeumt hat, rheinische Fabrikantentoechter in chinesische Arbeitsanzuege zu kleiden und der spaeter ein Verleger wurde, der vor allem MACHT ausueben und Literatur verhindern wollte; ausserdem den einarmigen Kaukasier, den dreifach Geschaedigten, der so gern ein Pate waere, dem jede Herzensbildung und – guete fehlt, der weint, wenn man nicht mit ihm spielt.
Drei gegen so viele andere, die vielleicht lahm und lethargisch leben, die vielleicht irren und nicht begreifen koennen oder wollen, aber die doch nicht ihr ganzes Leben aufs schnoede Ich ausrichten – oder wenigstens nicht in einer so geschickten Weise, dass sie fuer ihr Boesesein auch noch geehrt werden.

Die Erde scheint sich verkehrtherum zu drehen, wie anders waere zu erklaren, dass ich im Strassengraben sitze, mit einem Fisch in der Hand, mit einer verstaubten, klebrigen Wasserflasche; vor mir der Fluss Choper, in dem tatsaechlich Leute plantschen und quietschen.

Themen: Tour de Wolga

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