Hephaistos, 1.Szene, 1.Fassung
Hephaistos betritt das Klassenzimmer. Er hält die rechte Hand vor die Brust und atmet röchelnd.
“Wie könnt Ihr in geschlossenen Räumen etwas lernen? Sitzend zumal? Das widerspricht der Natur, aber die leugnet Ihr ja beharrlich. Ich sehe keinen Wein auf den Tischen. Ihr dürft träumen und schweigen, wann immer Ihr wollt. Wer es jedoch wagt, mir in die Augen zu sehen, bekommt das hier zu spüren.”
Er kloppt mit einem Gummiknüppel auf den Tisch.
“Eure Namen und euer Alter kenne ich, und auch sonst noch einiges. Sie, Latka, brauchen Ihr Pferdegesicht nicht zu schminken. Sie wollen doch nur Ihren Vater übertölpeln, aber das wird Ihnen nicht gelingen. Womit wir gleich beim Thema wären. Die meisten von Euch sind hier, weil sie sich rächen wollen. Man hat Euch geknechtet, erniedrigt, beleidigt, oder wenigstens missverstanden, nicht wahr? Und aus dem Hässlichen wollt Ihr das Schöne schmieden? Ich habe nicht die Absicht, Euch Ideale zu predigen. Wer wird mir die Füße waschen? Ihr wollt auf den Parnass, wollt Thalia und Erato treffen, deshalb seid Ihr zu niedrigen Handlungen nicht fähig? Verzärtelte Atheisten seid Ihr. Über Eure Eingötterei reden wir später. Seid Ihr bereit, Notenpapier zu stehlen? Sie da, Sie schmalbrüstiger Muskelprotz, der mit den gelben Zähnen, Sie sind der Auserwählte, Sie dürfen einem alten Mann die Sehnen massieren!”
Der Angesprochene grinst und antwortet: „Wer kann da nein sagen?“
Hephaistos: „Die Bereitschaft genügt mir vorerst. Setzen Sie sich, Sie Verlorener. Weshalb schimpfe ich diesen einen Verlorenen? Weil er die Haare gefönt hat und anderen beibringen will, was er selbst nicht vermag? Oder weil er das Gewisper in seinem Gewissen erstickt? Hört Ihr die Stimmen flüstern? Tu es nicht, Du kannst es nicht, es wird auch nicht besser durch Üben. Wo keine Substanz ist, wird sich auch keine anhäufen. Dreck bleibt Dreck, auch wenn er mit Fett vermischt und an die Wand geklebt wird. Wie will man aber herausfinden, ob man etwas Wesentliches zu sagen hat, wenn nicht durch Selbstbefragung? Der Pianist dort in der Ecke hat die Antwort auf der Zunge.“
Pianist: „Letztlich ist es göttliche Fügung. Neunzig Prozent aller Einfälle sind profan.“
Hephaistos deutet eine Verbeugung an. „Das nenne ich Stärke, Kratos. In der Stärke kristallisieren sich unendlich viele Eigenschaften. Eleganz, Gelassenheit, Hingabe, der scharfe Blick. Der Pianist hat verstanden, dass es darauf ankommt, die Stille zu hören. Er hält Maß und schmiert sich lieber eine Nudel ins Haar, statt mit einer gebügelten Fliege um den Hals auf den Tasten zu klimpern, um gepuderten Damen und bierbäuchigen Herren die Lebenszeit zu verkürzen. Er spielt nicht seicht, sondern lieber gar nicht. Apropos Bier. Hier wird nur Wein getrunken.“
Er bückt sich, zieht eine Flasche unter dem Tisch hervor, entkorkt sie, stößt einen Wohllaut aus, dann leert er die Flasche in langen Zügen.
„Es ist alles erlaubt, was zum Erlebnis führt, reden wir über diese steile These. Blickt euch von hinten an, dann werdet Ihr schlauer. Muskelprotz, Du sollst den Kopf nicht drehen, auch schütteln hilft nicht. Zeit ist Frist und Gnade, das hat Er noch nicht verstanden. Was nennt Ihr Dummköpfe ein Erlebnis? Das Absingen einer Firmenhymne? Die letzte Zollkontrolle auf Eurer letzten Auslandsreise? Oder etwa Eurer geliebtes Auschwitz? Nicht blass werden, hier seid Ihr frei von aller Schuld. Die erste Lektion solltet Ihr inzwischen gelernt haben. Die lautet wie? Fräulein Anselm Kiefer, bitte, antworten Sie!“
Die so Angeredete erhebt sich.
„Wer etwas lernen will, muss auch Frechheiten erdulden!“
Hephaistos lacht.
„Ach, ihr Modernen bildet Euch sonst etwas auf eure Höflichkeiten ein. Da muss ich doch gleich in meinen Rotzlappen weinen. Ich sehe, einen Statistiker haben wir auch unter uns. Haben Sie die Gedanken schon gezählt, die Ihnen neu erscheinen?“
Der Statistiker in der ersten Reihe: „Du scheinst ein rotes Wort zu färben. Ich bin eine kranke Qualle.“
Hephaistos: „Bravo, er kennt seinen Fluch und denkt amorph. Diesen nenne ich einen Geschlagenen. Er trägt sein Kreuz mit Würde. Weitere Vorschläge? Oder ist es ganz und gar zwecklos, Euch etwas Neues beibringen zu wollen? Der Lehrer ist begierig zu erfahren, was die Schülerchen gelernt haben.“
Pianist: „Ein Goldkörnchen haben wir schon gefunden – Du scheinst ein rotes Wort zu färben.“
Hephaistos: „Will Er mich ärgern? Das Wort stammt nicht von mir, sondern von unserem Zerrissenen, der, bitteschön, wen zitiert? Weiss Er es selbst?“
Der Statistiker: „Antigone, übersetzt von Hölderlin.“
Hephaistos: „Frei übersetzt, doch desto wahrer wurde der Sinn erfasst, möge Er hinzufügen. Von Schiller und Goethe wurde Hölderlin wegen dieses Satzes verlacht. Dies für die Jäger und Sammler unter Euch. Einer schweigt tunlichst, er schämt sich wohl? Er trägt Medaillen auf der Brust, wer hat sie ihm angeheftet? Der Zeitgeist? Bitte, berichten Sie von Ihren Auszeichnungen! Lege Er seinen Schulranzen ab und spreche Er frei!“
Hephaistos spuckt auf den Boden.
„Hat Er sich eingeschlichen, und bekommt Er es mit der Angst zu tun?“
Ein pockennarbiger Dickwanst erhebt sich in der letzten Reihe.
„Mein Ziel war es, berühmt zu werden, und dieses Ziel habe ich erreicht. Ob ich etwas Eigenes schaffe oder perfekt imitiere, ist mir egal. Ich habe gelernt, dass man heutzutage nicht mehr selbst schreiben muss. Ich leite ein Autorenkollektiv, und meine Arbeit gibt vielen Menschen Lohn und Brot. Was soll daran ehrenrührig sein?“
Hephaistos: „Er frisst von den Tellern anderer und beschimpft diese, dass sie immer das gleiche kochen, nicht wahr?“
Der Dicke: „Bisher hat mich niemand dafür kritisiert. Auch meine Mutter und meine Frau sagen, dass ich ein großer Schriftsteller bin.“
Hephaistos: „Er hat in Zukunft zu schweigen. Was ein Erlebnis ist, weiss Er ohnehin nicht.“
Pianist: „Es ist ein Erlebnis, das Zählen zu lernen. Die Dinge bekommen dann eine Ordnung.“
Hephaistos: „Ein Pythagoreer ist Er aber nicht? Singen die Sterne noch? Was hört Ihr denn heute überhaupt noch? In Euren Strassen ist es lauter als in meiner Schmiede. Zahlen bringen Ordnung in die Welt, sagt Er?“
Pianist: „In meinem kleinen Universum schon.“
Hephaistos setzt sich.
„Fragen wir unseren Statistiker. Ihn quälen die Zahlen? Zählt Er die Silben auch oder bloß die Worte, oder doch nur Fensterscheiben und Zaunlatten? Seit der Faden der Weisheit nicht mehr an die Sterne geknüpft ist, muss einer wie Er leiden? Was ist für Ihn ein Erlebnis?“
Statistiker: „Meist will ich kotzen, wenn ich die Menschen sehe, das ist ein Erlebnis.“
Hephaistos: „Ein ehrlicher Weltenhasser, ein Nachkomme Heraklits. Doch es hat noch niemand über die Liebe geredet. Wie wäre es, wenn die Damen sich äußern? Wir haben Mütter unter uns, sie sollten doch fröhlich denken. Oder ist das Gebären ein Fluch, wenn die Population abnimmt? Ein Volk, das sterben will, habe ich zuvor noch nicht besucht.”
Latka: „Wir sind freie Menschen. Es ist uns gestattet, so zu leben, wie wir möchten. Wir brauchen keine Sklaven, wir haben Maschinen, die für uns arbeiten. Die alten Griechen sind schließlich auch ausgestorben. Eine Frau muss nicht Mutter sein, um Erfüllung zu finden.“
Hephaistos: „Ah, Erfüllung sucht Ihr? Das völkische Ego spricht. Willkommen im Club der Verneiner. Nur Mut, die Damen, ich warte auf weiteren Widerspruch.”
Eine Frau in der ersten Reihe meldet sich.
„Ich schreibe das Protokoll. Meine Meinung mag nicht durchdacht sein, aber zu Ihrer Frage möchte ich sagen, dass niemand in die Zukunft schauen kann. Wir leben nicht mehr mit den Gedanken an die Zukunft, wir lieben die reine Gegenwart.“
Hephaistos: „Küss die Hand, Madame. Für wen schreiben Sie das Protokoll? Für die Archive, die verrotten werden? Werden Ihre Protokolle gelesen? Oder befriedigt es Sie, nichts Nützliches und nichts Schönes zu tun?“
Protokollantin: „Ordnung muss sein. Wir haben auch unsere Traditionen, die wir achten. Die Gegenwart würde nicht uns gehören, wenn wir nichts tun würden.“
Hephaistos: „Müde bin ich. Muskelprotz, nun darfst du mir Füße waschen.“
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