Schein und Wirklichkeit (1)
Dass nichts so ist, wie es zu sein scheint, ist eine Banalität, die auch für das Sein gilt, wie für jedes Ding und jede Person.
Säkulare Gesellschaften richten ihr Handeln jedoch nicht nach dem Sein, sondern nach der Wirklichkeit; sie versuchen es zumindest. Die Adressaten der Illusionen sind nicht der Himmel und die freien Sonntage, sondern das Materielle und das Jetzt.
Den Schein, der die Wirklichkeit umgibt und von dem sie durchtränkt sind, sehen säkulare Gesellschaften nicht. Sie müssten die Perspektive des Teufels annehmen, um sich erkennen zu können, die Perspektive des transzendenten Bösen, sie müssten sich selbst gleichgültig sein und ihren Niedergang ebenso stark lieben wie ihre Fortentwicklung. – Der Teufel Voland ist nicht nur klüger als Lenin, seine Diagnosen sind auch genauer als die der Kritiker des Kommunismus, und sein Humor spricht für seine höhere Intelligenz. Er ist an dem gestalteten Irrsinn schließlich nur zeitweise beteiligt.
Die teuflische Perspektive widerstrebt jedoch dem Lebenstrieb. Die Lust am Leben ist mehrheitlich stärker als die zum Tode hin.
Die zweite, theoretisch mögliche transzendente Perspektive, die des Gottes oder der Götter, verbietet sich durch die Selbstverblendung säkularer Gesellschaften, welche glauben, sich am Baum der Erkenntnis nicht überfressen zu können – das Schlaraffenland der Weisheit sei erreicht, eine Weltwirtschaftskrise wie unter dem dummen Vorvätern von 1929 könne nie wieder passieren oder geklonte Menschen besäßen austauschbare Eigenschaften.
Das klassische Beispiel einer gescheiterten säkularen Gesellschaft, die glaubte, ewig existieren zu können, liefert die Planwirtschaft, die Gesellschaft stalinistischer Prägung, der Erfolg des Jakobinertums.
Sie erprobte eine radikale, totale Verleugnung des Scheins; je stärker sie gelang, desto scheinhafter wurde jedoch die Wirklichkeit. (1935 lagen Euphorie und Todesangst näher beieinander als in den Jahrzehnten der Gleichgültigkeit unter Breschnew.)
Man glaubte, „den Kapitalismus“, also eine sich entwickelnde Gesellschaft, „überholt zu haben“, wenn man zum Beispiel mehr Stahl oder mehr Zement als die westliche Konkurrenz produzieren werde („Tonnen-Ideologie“).
Der eigentliche Schatz, das Mehr an Freizeit, wurde nicht bemerkt und deshalb auch nicht zum Tanzen genutzt, sondern für trockene Parteiversammlungen und stupide Disziplinierungen.
PS, aktueller Bezug: Berlin soll ein Denkmal der Deutschen Einheit bekommen, kein aufblasbares, sondern eine Schale, auf der man tanzen kann. Die Geschichte als Vergnügen, ob solch eine Sichtweise auf Dauer trägt? Es werden Inschriften für die Eierschale gesucht. Heiner Müllers Satz „Es darf getanzt werden“ würde passen – denn: Man muss es den Leuten ja sagen.
Foto: „Der Erfolg ist in deinen Haenden“ – Reklame einer Wahrsagerin, Saratow 2010
Themen: Essays