Nutzpflanzen – und Zierpflanzenbesitzer (Notizen 2)

In einem ukrainischen oder russischen Dorf setzt man sich spätestens acht Uhr abends vors Haus, schwatzt mit den Nachbarn, schimpft auf die Politik, berichtet Neuigkeiten von den Kindern oder Geschwistern, die oft im westlichen Ausland oder in Brasilien leben.

Tagsüber kommt alle halbe Stunde jemand vorbei, ein Freund, Kollege oder Nachbar, der etwas bringt oder will, Bohrmaschine, Geld oder Schnaps. Wer nebenbei einen Hauptberuf ausübt, wie der Lehrer, der Polizist oder die Verkäuferin, läuft in den Pausen nach Hause, füttert die Gänse und die Schweine, pflogt die Kühe um, leert die Reusen, isst die selbstgekochte Suppe.
Wenn man abends einen Anlass zum Feiern sucht, weil der Tag lang war, spaziert man ein paar Häuser weiter. Irgendwo sitzen immer welche, von denen man einen kennt; irgendwann wird man eingeladen. Beim nächsten Mal macht man es selbst ja genauso. Der Buchhalter feiert den Tag des Buchhalters, am Tag des Specks bekommt auch das Schwein einen Wodka in den Trog, am Tag des Kosmonauten schwatzen die Alten von den ruhmreichen sowjetischen Jahren und an den kirchlichen Feiertagen führen Zaristen das Wort. Der Dieb säuft mit dem Polizisten, der König der Diebe wird notgedrungen von allen umschmeichelt. Autorität im westeuropäischen Sinne hat nur der Priester. Der Staat wird verlacht, Politik gilt als Zirkus. Die Alten denken radikaler als die Jungen, nur Illusionen haben sie nicht.

Die Frauen klagen vor den Häusern über die infantilen Männer. Jeder zweite säuft sich zu Tode, ab vierzig sind seine Haare grau, einige seiner Freunde liegen bereits auf dem Friedhof. Alle sorgen sich um die Zukunft der Kinder. Selbst wer ein Studium bezahlen und den Professoren das Schmiergeld überreichen könnte, würde danach kaum eine gut entlohnte, qualifizierte Arbeit finden. Die Jungen wissen, dass sie nur im Ausland eine Chance haben, dort lockt die Scheinwelt. Auch in der Lehmhütte empfängt man eintausendfünfhundert Fernsehprogramme per Sattelitenschüssel, darunter deutsche Pornos und arabische Propaganda-Filme.

Der durchschnittliche deutsche Dorfbewohner weiß so gut wie nichts über die Ukraine oder Russland. Und wenn, dann nur Schlechtes. ER möchte da nicht leben. Abgesehen vom Klima – alles Mafia!
In einem ukrainischen oder russischen Dorf ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass man drei Spezialisten trifft, die die neuesten Filme von der „Berlinale“ und mehr deutschsprachige Rockbands als einheimische kennen. In der mittleren und der älteren Generation hat meist ein Vertreter in der Sowjetischen Armee auf dem Boden der DDR gedient, er hat den Zwinger in Dresden und das Brandenburger Tor gesehen und kann sich erinnern, wie gut das deutsche Bier schmeckte. Manch einer seufzt, hätten wir nur den Krieg verloren, dann würden wir heute so gut leben wie die Deutschen!

Einen Deutschen begrüßt man in ukrainischen und russischen Dörfern heutzutage meist mit dem Ausruf, „Das ist fantastisch, ja, ja!“. Auch Menschen, die in der Schule kein Deutsch gelernt haben, rufen begeistert diese Worte. Der Satz stammt aus einer deutschen Pornoreklame, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Fernsehen sehr populär war. Mit einem Deutschen assoziiert man heute fröhlichen Sex, nicht mehr die Phrase „Gitler kaputt“.

Lesetipp: http://ukraine-nachrichten.de/nutzpflanzen-zierpflanzenbesitzer_3225_meinungen-analysen_nachrichten

Themen: Russland - Ukraine

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