Über die Legende der angeblichen politischen und kulturellen Zerrissenheit der Ukraine (2)
Der Fahrradreporter erinnert sich an die Warnungen, die man ihm in Polen zugeflüstert hat. „Fahren Sie bloß nicht in die Ukraine, dort leben nur Räuber und Banditen! Dort herrscht nur Chaos!“
Er erinnert sich an ein Gespräch unter Schachspielern in Lwiw. Die beiden schon älteren Herren stritten sich über den Sinn und Unsinn eines Figurenopfers, als schließlich der eine fragte: Weshalb sprichst du Russisch mit mir? – woraufhin der andere antwortete: Ich will, dass du mich verstehst.
Zwei Zugezogene offenbar, die sich jahrzehntelang an die erz-ukrainische Umgebung angepasst hatten, aber im Streit die rodnoi yasik benutzten.
Auch im Gespräch mit dem Schmuggler spricht der Fahrradreporter Russisch. Er kennt die Meinungen vieler Russen, dass das Ukrainische keine vollwertige, nur eine Bauernsprache sei. Tatsächlich klingt das Ukrainische weicher als das Russische, die vielen I-Vokale erinnern an das Zwitschern von Vögeln.
Der Schmuggler spricht ebenfalls Russisch. Ob ihm das schwer falle, fragt der Reporter. Er stamme aus Kursk, sagt der Mann, aus Russland, er sei mit seiner Frau hierher in deren Heimat gezogen.
„Welche Sprache du sprichst, das ist nicht wichtig“, meint er. „Auf die Sprache des Herzens muss man hören.“
„Sie haben einen neuen Präsidenten“, sagt der Reporter.
„Er ist ein Dieb wie jeder andere Politiker auch“, sagt der Mann. „Bei euch in Deutschland gibt es vielleicht ehrliche Politiker, aber die Ukraine ist ein junger Staat“.
Inzwischen hat eine Gruppe Maschinisten die Bude betreten. Der Brigadier kauft den Wodka, füllt die Gläser, der älteste Traktorfahrer schneidet den Fisch. Dass der Fahrradreporter ein Deutscher ist, findet man schnell heraus. „Otkuda vy? Polyak? Nemets?“
Ein Deutscher, der Russisch spricht und trinken kann, hier in der Einöde, das muss gefeiert werden.
Der Brigadier zeigt seine Tätowierung auf dem linken Oberarm. Deutschland, zumindest den ehemals asiatischen Teil, kennt er ganz gut. Er hat in der Armee gedient, von 1989 bis 1991, wie das Kunstwerk bezeugt. Er ist der letzte sowjetische Soldat auf deutschem Boden gewesen.
Nach dem zweiten, dritten Gläschen sagt der Fahrradreporter wieder: „Sie haben einen neuen Präsidenten. Der wird für Ordnung sorgen. Alles wird besser. Bald öffnet Europa seine Türen für euch.“
Man schlägt ihm kräftig auf die Schulter, herzt ihn und beglückwünscht ihn zu seiner Naivität. Wieder wird Russisch gesprochen und geflucht.
„Eure Feinde sind die Kohlearbeiter im Donbass“, sagt der Fahrradreporter. „Die wollen, dass die Ukraine zu Russland gehört. So steht es in deutschen Zeitungen.“
„Provokateur!“, schreit das Kollektiv. „Er ist ein Spion! Er will unsere Meinungen wissen! Alle Arbeiter sind gleich! Wir brauchen eine Revolution! Wir brauchen polnische Fürsten! Ukrainer sind freie Menschen! Alle Politiker können uns am A… lecken!“
6th.Mai 2012 um 21:27
Molodez! 🙂 Was soll man dazu sagen? So ist es nun einmal! Mir fällt da nur Goethe ein: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“