Zwischen Hunger und Uebelkeit

Die Tabletten haben zweifellos eine Wirkung. Jedes Mal, nachdem ich sie eingenommen habe, überkommt mich das Gefühl, den Mageninhalt entleeren zu müssen. Und gleich am ersten Abend nach der Abfahrt aus Blisnjuki passiert es auch: Ich erbreche den Borschtsch, den ich soeben gegessen habe, auf die Straße.

Gott sei Tag führt die Straße durch eine vermüllte Landschaft, an eingestürzten Häusern und einem stillgelegtem Kolchos vorbei; nur einmal kommt mir eine Frau auf dem Fahrrad entgegen; so kann ich, ohne abzusteigen, mich freikotzen.

Es ist auch Wut dabei. Verdammt, dieses Jahr scheint tatsächlich die Tour der Leiden zu werden. Erst der Fuß, dann der Sturz, jetzt der Magen. Alles auf der rechten Körperseite. Und die Operationsnarbe hat sich an einer Stelle entzündet und eitert, ein Stück Faden wächst aus der Haut.

Und etwas zu mir nehmen muss ich doch, wenn ich bis Saratow kommen will. Eine Freundin aus Zaporoshije rät mir per Telefon, nur ungesalzene Kartoffeln und Hühnerbouillon zu essen.

„Du solltest die Dörfer in der Ukraine kennen“, erinnere ich sie. „Da gibt es keine Restaurants.“

Dreieinhalb Tage statt der eingeplanten zwei brauche ich schließlich für die 450 Kilometer bis zur Grenze. Es ist auch furchtbar heiß, um die 35 Grad im Schatten, und ich fahre ja meist in der Sonne. Nur in Kremmenits bekomme ich die Hühnerbouillon, in einem Restaurant für Sportler, in dem mich die Köchin wiedererkennt – vor zwei Jahren war ich schon einmal da, durfte damals mein Essen nicht bezahlen und darf es auch heute nicht.

Sonntagnachmittag bin ich schließlich in Markivka, der letzten Stadt vor der Grenze. Dass ich auch hier kein schonendes Essen bekommen werde, weiß ich schon. Wer hier lebt, kocht selbst; in Bars wird allenfalls getrunken, aber nicht gegessen.

Ich frage dennoch in einer Stolowaja, aber natürlich lautet die Antwort nein. Ich will gerade wieder aufs Rad steigen, da fragt mich einer Gäste, ob er mir helfen könne. „Was suchen Sie? Was wünschen Sie?“.

„Ich suche eine Möglichkeit, etwas Warmes zu essen“, antworte ich. „Aber in Markivka gibt es keine Restaurants?“.

Er sagt, er wohne nicht weit von hier, er lade mich ein, ich könne duschen und essen. Ich bin etwas skeptisch, schließlich gibt es für diese Einladung nun wirklich keinerlei Anlass.

„Warum wollen Sie mir helfen? Sie kennen mich doch gar nicht?“. Er hat noch nicht einmal gefragt, wo ich herkomme.

„Einfach so“, sagt er, „aus der Seele heraus. Ich bin kein Manjak.“

Gut, wir gehen schließlich zu ihm. Er erzählt, er besitze ein Geschäft und helfe im Kindergarten. Letzteres stimmt mich etwas misstrauisch.

Doch Sergej, wie mein neuer Freund heißt, führt mich zu seiner Wohnung, zeigt mir das Badezimmer und den Kühlschrank und geht dann zum Fußball. Ich soll essen und trinken was ich möchte, soll duschen und mich erholen. In ein paar Stunden werde er wiederkommen. Falls ich weiterfahren wolle, solle ich einfach die Tür zuziehen.

Seltsam, aber so ist es. Der Mensch spricht mich auf der Straße an, stellt mir seine Wohnung zur Verfügung und verschwindet.

Ich schreibe auf einem Zettel meinen Dank, nachdem ich geduscht und mich rasiert und die Haare gewaschen und mich ein halbes Stündchen auf dem Diwan erholt habe.

An der Grenze wieder nur die üblichen Plaudereien mit den ukrainischen wie mit den russischen Beamten. Keine Kontrollen. Ich fahre noch ins Tal runter, schiebe das Rad den nächsten Berg hoch und schlage das Zelt neben einem Maisfeld auf. Der Mond scheint weit ins Land.

Themen: Tour de Wolga

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