Letzte Etappe (1)

Zehn vor sechs wache ich auf. Der Himmel ist bewölkt, es nieselt. Die Tropfen spritzen durch das Moskitonetz. Ich trinke etwas Wasser, rolle den Schlafsack ein, ziehe die Fahrradklamotten an, schlage eine Mücke tot, lasse die Luft aus der Matratze, klappe das Taschenmesser ein, das nachts immer griffbereit neben mir liegt, und verstaue es, wie auch die Stirnlampe, in der Lenkertasche.
Normalerweise brauche ich vierzig Minuten vom Aufwachen bis zur Abfahrt. Heute will ich schneller sein, es wird ein langer Tag werden, knapp zweihundert Kilometer will ich fahren, um morgen spätestens am Mittag in Saratow zu sein. Matuschka Wolga ruft, ihre Stimme ist so wohltemperiert wie eh und je.
Das Wetter könnte besser nicht sein, genauso liebe ich es, nicht zu heiß, es ist sogar windstill. Etwa zwanzig Kilometer sollen es bis zum nächsten Restaurant sein, so die Auskunft eines Tankwarts, den ich gestern fragte. Ich bin diese Strecke zwar schon zwei- oder dreimal gefahren, aber immer aus der anderen Richtung kommend, so dass ich mich gar nicht erinnern kann, welches Restaurant gemeint sein kann. Es ist ohnehin ein komisches Gefühl, das Bekannte quasi seitenverkehrt zu sehen.
Ich fühle, dass ich gut in Form bin. Der Magen scheint sich etwas beruhigt zu haben, vielleicht hatten die Tabletten doch eine gute Wirkung, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie Steine zertrümmern. Schon gestern konnte ich normal essen, ohne kotzen zu müssen.

Als ich das Restaurant sehe, weiß ich wo ich bin, am Fluss Choper. Ein Schild am Straßenrand informiert sogar darüber, dass es noch 267 Kilometer bis Saratow sein sollen.
Ich bestelle Eier mit Speck, aber die Köchin schimpft, es sei nicht bequem, am Morgen Eier braten zu müssen, der Weg zum Herd sei so weit.
„Weshalb bieten Sie dieses Essen dann auf Ihrem Menü an?“, frage ich.
Sie wiederholt, es sei nicht bequem, watschelt aber dennoch zum Herd. Als ich auch noch eine Pilzsuppe bestelle, meint die Frau, die müsse sie erst aufwärmen.
„Sind Sie der Koch oder ich?“, frage ich.
Ein Autofahrer, der neben mir steht, bestellt ebenfalls Eier mit Speck – „wie dieser Genosse“, sagt er. Offenbar hat er die Klagen der seltsamen Köchin nicht gehört.

Immerhin gibt es im Restaurant eine WiFi-Verbindung, ich kann mein E-Book aufladen und kaufe „Freiheit statt Kapitalismus“ von Sarah Wagenknecht, „Die Angst des weißen Mannes“ von Peter Scholl-Latour, „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, „Putins Reich – Neostalinismus auf Verlangen des Volkes“ von Lena Kornyeyeva und „Der Tag des Opritschniks“ von Vladimir Sorokin.
Von all diesen „Büchern“ habe ich Leseproben gekostet, ich muss also jetzt nicht suchen, was ich lesen will. Ich brauche dringend Nachschub, habe auf dieser Reise schon 15 Bücher gelesen, darunter solche 700-Seiten-Werke wie „CIA: Die ganze Geschichte“ von Tim Weiner. Letzteres ist natürlich Stoff zum Gruseln gewesen, neue Nahrung für den Ekel – man kann sich als Laie einfach nicht vorstellen, wie blöd und paranoid und ineffizient solch ein Geheimdienst agiert.
Bsp.: Nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgte das kleinlaute Eingeständnis, dass man in vierzig Jahren etwa fünf relevante Informationen über die Sowjetunion herausgefunden hatte. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass ein einzelner intelligenter Mensch bessere Einschätzungen hätte liefern können.
Erfolg, wenn man das so nennen möchte, hatte die CIA vor allem in der Beeinflussung der öffentlichen Meinungen – man muss auch heute davon ausgehen, dass wichtige Leitartikler in westlichen Medien im Dienste der CIA stehen. Nun, das war nichts Neues für mich.
Wenn man ein Resümee ziehen möchte genügt eigentlich das Zitat: „Wir haben tausende von Kommunisten umgelegt, von denen die Hälfte nicht einmal wusste, was Kommunismus bedeutete.“ (Auf Indonesien bezogen.)
Oder: „Auf einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates gab Präsident Eisenhower dem CIA-Direktor den Auftrag, den kongolesischen Premierminister Lumumba zu beseitigen, den die CIA als Castro von Afrika betrachtete. Lumumba war frei gewählt worden und hatte die Vereinigten Staaten um Hilfe für sein Land gebeten …“.
Oder: „Zu den am eifersüchtigsten gehüteten Geheimnissen der CIA zählte die Tatsache, dass einer der Gründerväter der Organisation seit Jahren immer wieder in die Irrenanstalt wanderte.“ (Wisner)
Einige neckische Einzelheiten: John F. Kennedy wurde wahrscheinlich im Auftrag Fidel Castros ermordet; die Sowjets haben ihre Atomraketen aus Kuba nur deshalb abgezogen, weil die Amis im Gegenzug ihre gegen die Sowjetunion gerichteten Atomraketen aus der Türkei abzogen.
Ebenfalls neu war mir, dass die CIA nicht bloß 400.000, sondern 771.217 ausländische Offiziere aus 25 Ländern ausgebildet hat. Sprich: Im Namen von Freiheit und Demokratie wurde die Welt militarisiert.
Na, das ist doch mal eine ordentliche Zahl. Scheinheiligkeit, die ich meine …

Der Gerechtigkeit halber muss ich gestehen, dass mir auch das Buch „Der Mann ohne Gesicht – Wladimir Putin“ von Masha Gessen einige Schauer über den Rücken gejagt hat.
Dass Onkelchen Botox als stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg in den 1990er Jahren etwa 100 Millionen Dollar veruntreut hat, war mir nicht neu. Er sollte im Westen Lebensmittel einkaufen, die LM aber wurden niemals geliefert.
Auch dass diese ehrenwerte Persönlichkeit ein Kleptomane ist, überrascht mich eigentlich nicht. „Im Juni 2005 steckte er, während er sich als Gastgeber um eine Gruppe amerikanischer Geschäftsleute in Sankt Petersburg kümmerte, einfach den schweren, mit 124 Diamanten besetzten Ring der Super Bowl von dem Besitzer der New England Patriots Robert Kraft in die Tasche. Er hatte zuvor gebeten, einen Blick darauf werfen zu dürfen, hatte ihn anprobiert und dann dem Vernehmen nach gesagt: ‚Damit könnte man jemanden umbringen‘, dann steckte er ihn in die Hosentasche und verließ rasch den Raum. Nach einer wahren Flut von Artikeln in der US-Presse erklärte Kraft einige Tage später, dass der Ring ein Geschenk gewesen sei. So verhinderte er, dass eine peinliche Situation außer Kontrolle geriet.“
Dass aber alle Indizien darauf hindeuten, dass die Bombenanschläge von Wolgodonsk und Moskau vom russischen Geheimdienst, dessen Chef Putin war, organisiert wurden – „in der Absicht, die Russen in Angst und in dem verzweifelten Wunsch nach einem neuen, entschlossenen und sogar aggressivem Führer zu vereinen“ -, habe ich in solch glaubwürdiger Schilderung noch niemals gelesen.
Noch schlimmer, falls man solch mörderische Ereignisse gewichten möchte: Das Geiseldrama von Nord-Ost war wahrscheinlich ebenfalls eine Inszenierung des Geheimdienstes. Denn die „Geiselnehmer“ (welch höfliches Wort!) hatten nur Bombenattrappen, ihr Anführer konnte vor der Erstürmung des Theaters die Szenerie verlassen, lief später frei durch Moskau und brüstete sich seiner Taten.
Da hört sozusagen der Spaß auf. Ein rachsüchtiger Zwerg regiert Russland, aber das ist ja ebenfalls nichts Neues.

Fotos: Dserschinsky-Denkmal vor dem Bahnhof von Saratow

Themen: Tour de Wolga

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