Letzte Etappe (3)

2007 stand neben der Tankstelle noch eine kleine Bar. Ich erinnere mich so gut daran, weil die Kellnerin so exaltiert unfreundlich war. Es saß nur ein Gast in der Bar, er aß Spiegelei, das ich ebenfalls bestellte, doch die Kellnerin sagte, sie schließe jetzt und habe keine Lust, noch etwas zu kochen. Es war acht Uhr morgens.
Der Gast rief mir zu: „Das ist Russland!“.
„Ich kenne Russland anders“, sagte ich.
„Sie sind doch der deutsche Fahrradfahrer, über den im Radio berichtet wurde?“, fragte er.
„Und jetzt habe ich Hunger“, sagte ich.
„In zwanzig Kilometern kommt die nächste Bar“, sagte er.
Diese Gemütsruhe der Russen liebe ich sehr. Was heute nicht passiert, passiert eben morgen. Wenn es dir hier nicht gefällt, dann fährst du eben weiter Richtung Sonnenaufgang. Bis zum Pazifik ist ja genug Platz, 10.000 Kilometer Freiheit liegen vor dir.

Die Tankstelle ist schon von weitem leicht zu erkennen, weil neben ihr ein Funkturm steht. All diese Tankstellen sind inzwischen Kopien westlicher Tankstellen, das heißt das Geld wird kaum noch mit dem Verkauf von Benzin verdient, sondern mit dem Verkauf  von Getränken, die nach US-amerikanischen Lizenzen produziert werden. In diesem Jahr trinke ich vor allem Lipton-Tee, obwohl ich weiß, wie absurd hoch der Preis dafür ist und was das Zeug in der Herstellung kostet (1-2 Euro pro Liter gegen einige Cents). Limonade ist zu süß und schmeckt eklig, Wasser ist langweilig, Kwas, das Wundergetränk, wird an Tankstellen selten angeboten – es gilt noch immer der Werbespruch „Alles wird Coca-Cola“.

Von jetzt an sollte ich gut planen. Diese letzte Etappe bis zur Wolga ist nämlich die schwerste. Es gibt einige lange, gemeine Steigungen und der Asphalt ist zum Teil „unter alter Würde“, d.h. pockennarbig und picklig.
Der Oblast Saratow gehört zu den rückständigsten Russlands, und ich kann auch erklären woran das liegt. Der Region fehlt eine Idee für die Zukunft, die Politik ist kleinkrämerisch, es fehlt an Schlüsselindustrien, man hat wichtige Investoren vertrieben oder gar nicht erst unterstützt, man hat das Deutsche Generalkonsulat geradezu vertrieben, und der Flughafen von Saratow wird von seinem Besitzer immer noch wie der eigene Kleingarten behandelt, d.h. Konkurrenz nicht zugelassen. Außerdem wirkt sich die absurde Visa- und Registrierungspolitik der Moskauer Zentrale hier besonders verhängnisvoll aus, sie schreckt Investoren ab.
Als ich vor zwei Jahren vorschlug, Saratow solle sich als Kulturhauptstadt Europas bewerben, und wir mit Vertretern der Stadt, des Gouverneurs und des Kulturministeriums eine erste Arbeitsbesprechung durchführten, entstand schon nach 20-30 Minuten ein Streit zwischen dem Vertreter der Stadt und dem des Oblast über die künftige Verteilung der Gelder. Man verwies neidvoll auf Perm, wo ein rühriger Gouverneur (der inzwischen zurückgetreten ist), die gleiche Idee schon seit längerem verfolgt.
Mein Hinweis, dass solch ein Projekt nur chancenreich wäre, wenn Wirtschaft, Politik und Kultur sich einig seien, wurde zwar nickend bestätigt, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass hier niemand über die eigene Amtszeit hinaus planen würde.
Meine Maler- und Künstlerfreunde, denen ich von der Idee erzählte, waren zwar ebenfalls begeistert, meinten aber, dass angesichts der mafiosen Strukturen und der Korrumpierbarkeit der lokalen Politiker das Geld ohnehin nicht bei den Kreativen ankommen würde, sondern bei den Schmarotzern und Blutsaugern hängen bleiben würde.
Unvergessen der Ausspruch meines Freundes V.K., als wir unter einem Porträt des Gouverneurs standen: „Unser lieber Pate“.
Die Nihilisten und Zyniker sind in Russland immer auf der richtigen Seite.

Gut. Ich setze mich auf die Treppe vor der Kasse der Tankstelle, trinke meinen Lipton-Tee, bin ausgepumpt, gehe in Gedanken den Rest der Strecke durch. Wann kommt die nächste Kneipe? In siebzig oder dreißig Kilometern Entfernung? Ich frage die Verkäuferin, doch die weiß nur, wann man beim nächsten Mal tanken kann – in siebzig Kilometern. (Der Liter Benzin kostet in Russland 70 Cent, in der Ukraine schon einen Euro, was, angesichts der ukrainischen Löhne, schon ziemlich pervers ist.) Ich weiß noch, dass ich mich im vorigen Jahr arg verschätzt habe und wohl beinahe einhundert Kilometer ohne Wasser gefahren bin.
Aber die Euphorie, bald an der Wolga zu sein (heute Nacht!), ist so stark, dass ich mir zutraue, als nächstes Wolgawasser zu trinken.
Drei Autofahrer, die mich von der Seite anquatschen – „Wo kommen Sie her?“ -, ignoriere ich. Einem sage ich: „Zuerst wünscht man einen guten Tag!“. Hey, der mosert rum, aber was soll diese unkultivierte Ansprache?
Ohnehin schwebe ich in Sphären, wo außer mir und meiner neuen Geliebten sich niemand befindet.

Statt also Wasservorrat mitzunehmen, fahre ich weiter. Siebzig Kilometer, das sind drei bis dreieinhalb Stunden Fahrzeit, da werde ich nichts weiter tun, als stramm zu radeln. Gesagt, getan. Nach einigen Kilometern begreife ich wieder, wo ich bin. Obwohl, kleines oder großes Wunder, die Straße nach Saratow sich offenbar verwandelt hat. Der Asphalt wirkt wie glattgeleckt, frischer Teer dampft auf der Straße, müde Bauarbeiter sitzen am Straßenrand, Bagger drücken Erde fest, heben Gräben aus. Statt des knochigen Untergrunds vom vorigen Jahr blitzt ein Belag im Sonnenlicht, auf dem man wohl auch Formel-1-Rennen veranstalten könnte. Ich schaffe mühelos 30 km/h, fahre im hohen, sieben zu fünfer Gang die Anstiege hoch.
Welche sensationelle Neuigkeit, im Oblast Saratow tut sich etwas. Dabei wird diese Straße doch gar nicht für die Olympischen Spiele in Sotschi gebraucht. Die Autobahn von Moskau nach Rostow-na-Donu wurde schon vor Jahren erneuert, aber nun auch die West-Ost-Verbindung.
Zwischendurch wirkt die Landschaft wieder apokalyptisch, kalkige Staubwolken fallen über Birkenwälder nieder, die Abfahrt ins Tal liegt einige Meter über der alten Straße.

Themen: Tour de Wolga

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