Letzte Etappe (5)
Kein Wasser. Noch 60 – 80 Kilometer bis zur rettenden Wolga. Bald Mitternacht. Wie gut, dass mein Kopf ein Archiv ist und ich Filme sehen, Bücher lesen, Schachpartien wiederholen, an Vergangenes denken kann. Müde bin ich nicht. Erst jetzt, kurz vor der Ankunft, spüre ich die Form, die ich von mir erwarte.
Mein Fußgelenk tut schon lange nicht mehr weh. Das Gelenk schwillt nur an und sagt TUCKTUCKTUCK, wenn ich nicht radle, wie zuletzt vor 4 Tagen, als ich am Don, bei Freunden, mich einen Tag lang ausschlief.
Wie schön war doch dieser Moment zwischendurch: Ich sitze in einem Restaurant, mir gegenüber ein Mann, der STO GRAMM in seinen Rachen kippt und erzählt, er habe gestern Geburtstag gehabt, sechzig Jahre jung sei er geworden. Jetzt müsse er den Kater beschwichtigen.
Ich: Das verstehe ich gut. Hatten Sie viele Gäste?
Freunde kann man nie genug haben, sagt er. Wo kommen Sie her?
Aus Berlin.
Ihm rutscht das Gesicht auf den Boden.
AUS BERLIN? MIT DEM FAHRRAD?
Nicht zum ersten Mal. Zum sechsten Mal.
Sie sind ein reales Symbol, sagt er.
Ich könnte ihn sicher leicht dazu bringen, noch drei Tage lang seinen Geburtstag zu feiern.
Wie alt sind Sie? fragt er.
Was schätzen Sie? (Verdammte Eitelkeit!)
Dreiunddreißig?
Bald fünfzig, sage ich.
Er guckt zum Fenster und sagt: Ich habe falsch gelebt.
Jeder hat sein Schicksal, tröste ich ihn. Meines ist auch ziemlich verrückt. Sie würden mir nicht glauben, glauben Sie mir.
Er ruft durch den Saal: Dieser Mensch kommt aus Berlin! Mit dem Fahrrad! Zum sechsten Mal macht er diese Reise!
Still, sage ich.
Dann verbeugt er sich wie Japaner vor ihrem Kaiser und geht.
Dieser Anblick – DAS-GESICHT-RUTSCHT-AUF-DEN-BODEN – ist vielleicht das schönste Geschenk, das ich auf meinen Reisen immer wieder erhalte. Ich treffe ja oft Leute, die noch nie weiter als bis zur nächsten Kreisstadt gefahren sind. Frage ich sie, ob die Straße nach Osten asphaltiert sei, sagt man mir: In dieser Richtung kenne ich mich nicht aus. Dort bin ich noch nie gewesen.
Orte wie Berlin oder Wolga klingen fast schon mystisch. Aber man muss nur losfahren und alle Zwänge abwerfen, man muss nur auf alles spucken, womit die Bonsai-Kulturen einen fesseln wollen.
Jetzt allerdings wäre ich vielleicht lieber dieser Mann, der irgendwo in seinem Bett liegt und trinken kann, Tee zumindest. Vielleicht. Andererseits: Die Nacht ist hell, ich bin nicht müde. Ich habe nur Durst. Der nächste Anstieg. 220 Kilometer bin ich gefahren. Noch immer habe ich keinen Plan. Das Ziel ist die Wolga, aber sonst weiß ich nichts.
Eine Beleidigung kommt mir in den Sinn. Buchmesse Leipzig, 2008. Eine Hexe steht vor mir und sagt: Ich habe Ihr Interview im Radio gehört. Ich möchte wissen, wie Sie das aushalten, mit dem Fahrrad bis zu Wolga zu fahren. Ihr Fahrradbuch möchte ich aber nicht lesen, sondern das über Ihre Kindheit. Dort liegt doch der Schlüssel für Ihre Leidensbereitschaft.
Oh Gott, wie dumm. Sie kennt nur einen Radfahrer, dieses eine Beispiel verabsolutiert sie mit ihrer Küchenpsychologie. Würde sie, wie ich, ein Dutzend Radfahrer persönlich kennen, die solche Touren machen, hätte sie vielleicht verstanden, dass jeder seine eigene Geschichte hat, aber jeder vergleichbare Erfahrungen geschenkt bekommt: Es ist einfach berauschend, dem Nützlichkeitsdenken pupsend davonzufahren. Denn nach einigen tausend Kilometern im Sattel erfährt man sich ein neues Sein.
Mir erzählte ein Sattelheld, er sei durch Afrika geradelt, durch den Kongo, wo Bürgerkrieg herrschte, wo ihn bekiffte Kindersoldaten anhielten. Statt ihn zu erschießen, lachten sie ihn aus. Wie? Ein Deutscher auf dem Fahrrad? Einer, der kein Geld für ein Auto hat? Wenn das kein Witz ist.
Als Radfahrer ist man eben kein verdächtiger Fußgänger / Landstreicher, auch kein Dieb / Mercedes-Fuzzi. Dumme, reiche Schnösel fahren in gepanzerten Jeeps (sprich: Verbrecher in jederlei Hinsicht) durch die Ukraine und wundern sich, dass sie von Einheimischen nicht eingeladen werden. Der Gedanke, dass sie die Einheimischen einladen müssten, kommt ihnen nicht.
Ich halte an, will meinen Pulsschlag hören und mir die Jacke übers Trikot ziehen. Vielleicht übertreibe ich doch? Ich lege mich ins Gras, schließe die Augen, öffne sie wieder und sehe die Sterne tanzen. Der Große Wagen quietscht, die rote Mondsichel wiegt sich.
Ich könnte einschlafen, der Boden hat genau die angemessene Temperatur. Aber dann hätte ich nach dem Aufwachen noch stärkeren Durst als jetzt.
Komm, sei nicht schwach, rede ich mir zu. Wenn schon das nächste Restaurant nicht geöffnet haben wird (40 Kilometer vor Saratow), so doch die nächste Tankstelle (25 Kilometer). Doch auch das ist nicht sicher, im letzten Jahr hatte das dortige Geschäft sogar am Tage geschlossen.
Egal, es hilft ja nichts. Morgen früh werde ich in die Wolga springen. Im Dnjepr und im Don bin ich geschwommen. Und noch immer habe ich „Tichy Don“ nicht gelesen, nur eine Verfilmung gesehen, wie peinlich. Tatsächlich ist der Don ein harmloser, stiller Fluss, der Dnjepr hingegen – eine Urgewalt, ein Majestät.
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