Wie provinziell ist die russische Provinz? (2)
Bei dieser Frage musste ich an die Erzählung eines Freundes denken, der schon aus beruflichen Gründen gut in die Vorgänge eingeweiht ist, von denen er berichtete.
Der Geschäftsmann X., ein stadtbekannter Pate, hatte soundso viele Millionen gescheffelt, wurde von Konkurrenten mit besseren Beziehungen zum Geheimdienst und zu den Gerichten ausgebootet, kam kurzzeitig ins Gefängnis, wurde freigelassen und konnte sich nach Israel absetzen, von wo aus er nun die frechste Oppositionszeitung finanziert, in der die kritischsten Artikel erscheinen können. Aus Rache natürlich.
Scheinheiligkeit pur, wie der Freund meint. Er ist Journalist, soll er dort arbeiten? Wo könnte man sich engagieren?
Die Opposition in Moskau mag sich liberal oder westlich orientiert nennen, aber kann sie Konzepte vorweisen?
Ein anderer Spot: Gruppenbesäufnis mit Pensionären. Arbeiter. Die Generation der ersten Rock ’n‘ Roller an der Wolga. Wenn sie die Wahl hätten, würden sie Adolf Hitler wählen. Schon aus Trotz, weil sie zu den Verlierern gehören. „Macht kaputt, etwas euch kaputt macht“, das spricht ihnen aus dem Herzen. Eine Zukunft hatten sie nie, also wollen sie die totale Disziplin ebenso wie die totale Zerstörung.
Ihre Töchter und Enkel suchen sich ihre Ehepartner übers Internet, statt in halblegalen Discotheken wie sie früher; fast jede Familie hat ein Mitglied, das ins westliche Ausland oder gar nach Brasilien ausgewandert ist.
Einer von ihnen hat fünf Jahre Lagerhaft verbüßt, weil er Lenins Schrift „Staat und Revolution“ falsch, das heißt eigentlich richtig interpretiert hatte. Denn der Staat war noch nicht abgestorben, wie er am eigenen Leib verspüren konnte.
Wenn man diesen Menschen etwas von Vernunft und Demokratie erzählt, weisen sie auf das Porträt des Gouverneurs an der Wand und sagen: Unser lieber Pate.
Die Idee, dass die Verhältnisse in Russland nach den Maßstäben der Vernunft und der Rationalität umfassend neu geordnet werden könnten, ist und war immer utopisch. Insofern muss man den Defätisten zustimmen. Diese unterschlagen in ihrer bequemen Anti-Haltung jedoch, dass ohne den Kampf für bessere Verhältnisse die Zustände noch schlechter wären.
Doch obwohl eine wählbare Alternative zu Putin fehlt, hat Putin auch in der Provinz längst keine Mehrheit mehr, unabhängig davon, was die Zahlen aus den Umfragen oder gar die letzten Wahlergebnissen besagen. Denn natürlich wurde beim Auszählen wieder gemogelt, niemand zweifelt daran, ich selbst sprach mit Zeugen bzw. Beteiligten.
Das Desinteresse an Politik ist zweifellos ein spätsowjetischer Reflex. Doch er wird nicht nur vom Gefühl der Angst getragen, sondern auch von Klugheit und Realitätssinn.
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