Poltawa, 27.07.2023

Seit heute Nacht bin ich wieder zu Hause, in Poltawa. (Was ist Heimat? Der Ort, an dem ich am liebsten bin.) Der eine Sommermonat in Deutschland war diesmal nicht so schwer zu ertragen wie der im letzten Jahr. Die grauenerregende Normalität dort hat mich diesmal nicht überrascht, nicht schockiert. So leben die Leute eben da drüben, stillvergnügt in den Tag hinein, genießerisch und traumtänzerisch. Man will sie mit dem Wort KRIEG gar nicht stören. Oder gar von Mitverantwortung und Schuld reden. Leben und leben lassen bzw. sterben lassen.

Erstaunt hat mich der offenbar neue Trend in der Selbstverstümmelungskultur, die vielen Blümchen-Tätowierungen, die sich viele junge Frauen jetzt einstechen lassen. Eindeutig Zeichen einer selbstgefälligen Epoche. Früher zeigte man mit Totenkopf-Tattoos, dass man bereit war seine Rechte zu verteidigen, bspw. RocknRoller. Von der Südsee und von Gefängnissen zu schweigen. Jetzt hat das Stadium der Blümchen-Tapeten begonnen.
In Bayern nehmen viele junge Leute das Angebot wahr, sich ein Tattoo umsonst stechen zu lassen für die Bereitschaft, Organspender zu werden. Man darf das Motiv wohl frei wählen, es ist nicht vorgeschrieben, eine Niere oder ein Herz zu wählen.

Ein Freund in Berlin meinte, je freizügiger gekleidet und gestaltet die Frauen in Berlin seien, desto leerer seien auch ihre Gesichter, desto stärker klebten sie am Augenblick. („Knochiges, leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Als ich an den Tisch trat sah ich sie zum ersten Mal, als ich mich setzte stand mein Urteil fest.“ Franz Kafka über seine spätere Verlobte Felice)
Wollte man diese Regel, der ich zustimmte, bildlich darstellen, so könnte man das gut an einem Sonntag machen, bei einem Spaziergang zwischen Mauerpark und Humboldthain. In Ersterem sieht man Atheismus pur, selten nur Spur von Transzendenz, wegen der krampfhafter Bemühungen sie zu erreichen und allen zu zeigen. Die Unschuld ist weg, siehe Kleists Marionettentheater. Selbst wenn sie sich Strümpfe anziehen wollen sie schön sein und für ihre Schönheit bewundert werden.
Im Humboldthain hätten Maler aus dem 19. Jahrhundert wunderbare Vorbilder für heiter-gelassene Gesellschaftsporträts gefunden. Der Mensch im Einklang mit der Natur. Gesittet im Kreis sitzende Familien und Freunde. Man erkennt das, was man den anderen vermisst, ein Grundgefühl der Dankbarkeit für das Dasein, welches sich ausdrückt in Achtsamkeit, Bescheidenheit, Selbstsicherheit und Gelassenheit. Tapeten-Frauen waren dort nicht zu sehen, auch unter ihren Schleiern werden sie wohl keine Biedermeier-Tatpos tragen.
Noch grässlicher als die Tapeten-Blümchen fand ich den Nasenring-Trend. Wissen diese Leute gar nicht, dass es kaum eine schlimmere Erniedrigung gibt als öffentlich am Nasenring gezogen zu werden?

Im Ethnologischen Museum, beim Betrachten exotischer Gottheiten, zweifelte ich dann wieder an meinen barschen Urteilen. Gesetzt, Gottheiten sind Selbstporträts der Menschen, so waren deren Schöpfer hier wohl auch nicht mit sich zufrieden. Und um vor sich wegzulaufen, ertrugen sie sich nur als Karikaturen ihrer selbst.

In Kyiv wurde ich – natürlich – mit Luftalarm „begrüßt“. Die Russen schossen wieder Langstreckenzeugs auf uns. Ich war zum ersten Mal seit Beginn des Großen Krieges in Kyiv in der Metro. Fast ausschließlich jüngere Menschen suchten dort Schutz und warteten auf das Ende des Luftalarms. Klar, bei der Hitze fällt es älteren Menschen besonders schwer, schnell unter die Erde zu laufen.
„Warum hassen sie uns so, dass sie uns töten wollen, unser sogenanntes Brudervolk“, diesen Satz habe ich von Ukrainern im vorigen Jahr einige Male gehört. Jetzt fragt sich das wohl niemand mehr. Für die Russen ist das Töten eine normale Arbeit. Die Arbeitsteilung beim Töten ist so organisiert, dass ich keiner verantwortlich fühlt. Der Bomberpilot muss die Ziele gar nicht kennen, auf die er schießt; das Programmieren hat ein Kollege Ingenieur übernommen, der die Ziele von einem Kollegen aus der Verwaltung bekommt und auch nicht weiß nach welchen Prinzipien die übergeordnete Verwaltungsabteilung entscheidet.

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Poltawa, 27.07.2023”

  1. boris shrage schreibt:
    13th.August 2023 um 11:59

    Sehr geehrter Herr Brumme,
    ich kannte ihre “Arbeit/ Schaffen” bis heute nicht.
    Kurzes Interview in einem Podcast Heute gehört ( Lotterie…)
    Sie haben das seltene Talent , unabhängig vom literarischen, in die Seelen von Menschen, Gesellschaften sich einzufühlen& denken…. Macht Ihnen das Leben sicher nicht einfacher….
    Habe mit großem Interesse ihre Artikel gelesen die eben dieses Talent ausdrücken.
    Ihre Beschreibungen der Mentalität der Menschen auf russischer wie ukrainischer Seite best tätigen meine Eindrücke/ Theorien zu den Geschehnissen, interessant. Vor allem deshalb, weil Sie als Deutscher – zunächst- neutral wären hinsichtlich der frühkindlichen Erziehung/ Schule/ Elternhaus , bis auf den kleinen Umstand in der DDR aufgewachsen zu sein… das verleiht ihnen aber sicher eine Sensibilität die ein Westdeutscher nicht haben kann( in der Regel).

    Ihre Eindrücke diesen Sommer sind richtig, bzw kann ich Sie teilen.
    Allerdings weiss ich nicht wie Deutschland sich hätte anders entwickeln können… es geht uns hier zu gut, und die Tradition von Mitgefühl und Solidarität war noch nie eine deutsche Tugend.
    Ich wünsche Ihnen Gesundheit und ihrer Familie Glück und Stabilität
    Boris Shrage

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