Feldforschung Russland

Poltawa, 20.01.2024
Zwei materialreiche Gebiete für Feldforschung in Russland: 1. Interviews mit Kriegsgefangenen aus Russland, insbesondere auch im Gespräch mit ihren Verwandten, meistens Ehefrauen; 2. Hauptnachrichten im regionalen Fernsehen in Russland. 

Zu 1.: „Ich interessiere mich nicht für Politik“ ist der häufigste Satz, den die Ehefrauen der Gefangenen sagen. Wolodymyr Solkin fragt dann gern: „Wofür wäre Ihr Mann in der Ukraine gestorben?“ Woraufhin in ca. 70 Prozent der Fälle die Antwort erfolgt: „Er hatte ja keine andere Wahl, er hat den Befehl bekommen, er hätte sonst ins Gefängnis gemusst.“
Dann fragt Solkin in der Regel: „Es ist also besser, dass er unsere Kinder tötet? Und Sie sind Sklaven, dass Sie auch kriminelle Befehle befolgen müssen? Nur Sklaven haben keine Wahl und müssen tun, was ihnen ihr Herr und Besitzer befiehlt.“
Relativ selten, ca. in 20 Prozent der Fälle, begründen die Ehefrauen der Gefangenen den Krieg mit Propaganda-Lügen, meistens mit der Behauptung, die Ukrainer hätten acht Jahre ihre eigenen Städte im Donbas bombardiert. Zu beachten ist natürlich die Gesprächssituation: Alle Beteiligten wissen, dass die Videos veröffentlicht werden. Den Leuten aus Russland drohen straf“rechtliche“ Konsequenzen in ihrer Heimat, wenn sie gewisse Wahrheiten und Tatsachen aussprechen. Da ist es schon mutig, dass viele sich bei den Ukrainern bedanken, weil die ihnen das Gespräch mit ihren Männern ermöglicht haben.

Zu 2: Das Auffälligste ist, dass in den Hauptnachrichten im regionalen Fernsehen in Russland fast nie über den Westen gehetzt und fast nie über den Krieg berichtet wird. Klar, es sind Nachrichten und Berichte aus den Regionen, aber auch die seltenen und kurzen Berichte über die „Spezialoperation“ kommen fast ohne die üblichen Verleumdungen aus – sie sind sowieso weitgehend „inhaltsleer“. In der Regel wird gezeigt, dass Freiwillige Versorgungsgüter ins Frontgebiet bringen und die Soldaten sich brav dafür bedanken und die Angehörigen in der Heimat grüßen. Sehr selten wird gezeigt, wie Soldaten von ihren Angehörigen verabschiedet werden. Niemals gibt es beim Militär Opfer, Verluste, Niederlagen oder Fehler.

Ein wesentliches Gestaltungselement in den Hauptnachrichten ist das „nordkoreanische“ Auftreten der Gouverneure und Bürgermeister der Gebietshauptstädte. Das sind alles kleine Kim-Il-sungs oder Kim-Jong-ils. Sie werden anders inszeniert als Putin, nämlich als um alles sich Kümmernde, alles Verstehende und alles Kontrollierende. Putin „kümmert“ sich mit sexistischen Witzen zwar auch um den Mangel an Hühnereiern, aber doch nur ein paar Mal im Jahr. Die regionalen Despoten sitzen aber nicht wie der Kriegsherr im Kreml in einem Büro, sondern sind oft wirklich vor Ort. Der Bürgermeister einer Millionenstadt weiht nicht nur persönlich Kindergarten und Schulen ein, er prüft auch die Baufortschritte und die Qualität des Asphalts im Straßenbau, und zwar faktisch an jedem Arbeitstag. Anders als in Nordkorea schreiben die Ingenieure und Fachleute die Ratschläge des Chefs aber nicht mit, sondern sie nicken meistens nur betreten oder nachdenklich. Natürlich widerspricht niemand irgendwem. Was der Natschalnik sagt ist heilige Wahrheit. Unterschiedliche Meinungen gibt es faktisch nicht, „alle Russen denken gleich“, wie mir mal eine Russin aus Saratow über die Okkupation der Krim schrieb. (Wenn alle gleich denken, denkt niemand, klar.)
Im Wesentlichen hat die Gestaltung der Hauptnachrichten die Aufgabe, Normalität zu suggerieren. Den Regierenden sind demnach viele Alltagsprobleme bekannt, Überschwemmungen, Heiz- und Verkehrsprobleme. Aber natürlich wird, wie zu Stalins Zeiten, das Leben von Tag zu Tag schöner.
Neuerdings kann man Stalin-Bilder auch in Polizeistuben und Kasernen sehen.

Themen: Russland - Ukraine

2 Kommentare to “Feldforschung Russland”

  1. Realist zu 1. schreibt:
    20th.Januar 2024 um 19:26

    Der ukrainische YouTuber und Blogger Volodymyr Solkin wirbt in seiner Kanalinfo mit der ganzen Wahrheit über Russlands Invasion in der Ukraine. Seine Vielzahl an Interviews und persönlichen Äußerungen kann gewiss nicht die vollkommene Wahrheit über den Krieg Russlands gegen die Ukraine darstellen. Bestenfalls Tendenzen und bewiesene Tatsachen; also kein Anspruch auf Absolutheit.

  2. Realist zu 2. schreibt:
    20th.Januar 2024 um 20:22

    Wie beim Flughafenprojekt BER sehr deutlich wurde, dass ein Berliner Bürgermeister keine zuverlässige Kontrollfunktion (Aufsichtsratsvorsitzender) wegen fehlender Qualifikation innerhalb einer Großbaustelle ausüben kann, gilt diese Erkenntnis auch fürs totalitär abgedriftete Russland. Politischer Machtmissbrauch und Amtsmissbrauch können verschiedene Facetten annehmen und enorme Schäden anrichten.

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