Die Stimmung und die Deutschen

Ein Schweizer Redakteur versteht sofort, was deutsche Journalisten offenbar gar nicht verstehen.
Der Schweizer fragt mich: „Ich habe immer noch Mühe mir vorzustellen, wie man Krieg und Alltag zusammenbringt. Wie erlebt man die Gewöhnung an das Schreckliche, was lässt sich dagegen tun?»

Meine Antwort: „Das ist tatsächlich eine Frage, die mich auch immer wieder beschäftigt, weil ich ja auch davon betroffen bin. Wir „funktionieren wie auf Schienen, da kann man nichts selbst steuern“, vermutete neulich eine deutsche Freundin. Ein deutscher Freund, kurz hinter dem Dnipro wohnend, meinte, wir seien einem „Hurrikan der Emotionen“ ausgesetzt.

Beides stimmt wohl. Der wichtigste Antrieb zum Durchhalten ist wahrscheinlich die Alternativlosigkeit. Wir handeln in Notwehr. Aber fast alle sind traumatisiert, wir hören die Sirenen ständig im Kopf.

Ich war Neujahr an der Front, habe darüber einen Bericht für ntv geschrieben. Da regte sich ein Soldat auf, dass das Sanatorium für die Reha im Wald lag. Ich verstand nicht, wieso das schlimm sein soll.
Da erklärt er: „Ich liebe die Natur, aber jetzt ist sie nicht mehr unschuldig. Wenn die Zweige knacken, prüfe ich, ob es ein Feind ist. Der Wind rauscht, die Bäume knarren, wie auch in den Pausen in dem Wald, in dem wir beschossen wurden.“
Als ich sage, das Sanatorium sollte dann besser an einem Ozean liegen, stimmt Kolja mir zu. Bei der Vorstellung, Seeluft einzuatmen, leuchten seine Augen.“

Und weiter an den Redakteur: «Die schlimmste Frage, die man uns stellen kann, und leider die beliebteste im deutschen Journalismus, ist übrigens die nach der Stimmung. Das ist so typisch Deutsch, das Abfragen von Gefühlen, selbst im Krieg. Aber Moral, Motivation, Durchhaltewille sind belastbarere Maßstäbe.»

Der Schweizer: „Ja, die deutsche Seele liebt Stimmungen: Sonnenuntergang und Nebel, Wald und Ruinen – auf den Spuren von Caspar David Friedrich…»

Themen: Russland - Ukraine

2 Kommentare to “Die Stimmung und die Deutschen”

  1. ein Berliner schreibt:
    22nd.Januar 2024 um 19:22

    Wenn ich in Berliner Öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin und zwischen dem ausländischen Stimmengewirr gelegentlich die deutsche Sprache vernehme, stellt sich mir die Frage, wie sich die deutschen Seele eine solche Unmenge an Fremdsprachenkenntnissen zulegen konnte. Der Krieg gegen die Ukraine räumt der dortigen Psychohygiene als auch in deutschen Flüchtlingsunterkünften einen bedeutsamen Stellenwert ein. Erst mit echter Akzeptanz sowie der Unterscheidung von Gefühlen und Emotionen, werden die notleidenden Menschen als solche wahrgenommen werden können. P.S. Menschenwürde!

  2. ein Berliner schreibt:
    22nd.Januar 2024 um 19:27

    Korrigiert: …, wie sich die deutsche Seele …

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