Burjaten und Paradoxe

Poltawa, 29.02.2024
Gestern habe ich Aljona getroffen, die Power-Frau von der jüdischen Gemeinde. Ihr 32-jähriger Sohn wird jetzt auch zum Militär eingezogen. Aljona ist auch bereit zu kämpfen, wenn man, wie sie sagt, solch eine Baba wie sie gebrauchen kann. Sie will keine Burjaten in ihrer Wohnung haben und keine Mörder mit Brot und Salz empfangen. Russland will aus der Ukraine eine Todeszone machen, sagt sie, eine „krematorische Zone“ (das Wort hörte ich zum ersten Mal). Da sei es doch besser, stehend zu kämpfen als kniend zu sterben.
Sie erzählte auch von ihren Erlebnissen in Russland in den 90er Jahren. Da beleidigte man sie mit obszönen Spitznamen, aber nicht als Jüdin, wie sie betont, sondern als Ukrainerin. Vom großrussischen Chauvinismus und Rassismus sowjetischer Prägung war es nur ein kleiner Schritt bis zum heutigen Putinismus und Raschismus.

Der Krieg bringt neue Paradoxe hervor. Zivildienstleistende aus Deutschland bilden sich ein, die militärische Lage besser beurteilen zu können als der ukrainische Generalstab.
Selenski sei kein Churchill, er spiele ihn nur, schrieb jemand. Das Schlimme ist nur: Der politische Anführer der Deutschen, der Bundeskanzler, spielt nicht mal den Churchill.
Neuerdings suchen Tagesgäste aus dem Ausland wieder nach unüberbrückbare Spaltungen in der ukrainischen Gesellschaft, die Ukrainer mehrheitlich nicht als solche bewerten. Verabsolutierung flüchtiger Eindrücke, typischer Boulevardjournalismus.
Von den Todeszonen an den Fronten aus mag der zivilisierte Alltag in den ukrainischen Städten dekadent wirken. Von den ukrainischen Städten aus wirkt der zivilisierte Alltag in westlichen Ländern ja ebenfalls dekadent, also überheblich, selbstverliebt und ahnungslos.

Luftalarm. Egal, ich schreibe weiter.
In den nächsten Tagen will ich mir mehr Kunst und Sport gönnen, Ausstellungen und Filmvorführungen besuchen. Auch ist ein großes soziales Experiment geplant. Wieder etwas Dekadentes in den Augen der Tagesbesucher. Einer von ihnen wunderte sich sogar, dass in Kyiv Fitness-Studios arbeiten. Dabei sind Fitness-Studios kriegswichtig, weil man sich da, wie der Name schon sagt, fit hält, auch aufs Militär vorbereitet, nach der Reha trainiert. Kommandeure und Volontäre rufen immer wieder dazu auf, Fitness-Studios zu besuchen, zu trainieren, gesund zu leben. Ausländische Besucher sehen darin einen Verrat an den Frontkämpfern. Halleluja.

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Burjaten und Paradoxe”

  1. Realist schreibt:
    10th.März 2024 um 16:42

    Kurz gesagt: „Die Ukraine braucht sofort(!) jegliche Unterstützung zur Verteidigung sämtlicher Werte ihrer Nation und Deutschland keinen Kanzler, der den Churchill spielt.“ — Menschen mit gesundem Selbstwertgefühl verspüren kein Bedürfnis zur Abwertung von anderen, und jene mit narzistischer Persönlichkeitsstörung könnten bis zur globalen Bedrohung erkranken.

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