Dekadenz u.a.
Poltawa, 3. März 2024 Dekadentes Wochenende.
Freitag war ich im ArtStudio, wo S. einen Vortrag über die Geschichte der Utopien und ihre Darstellung in den Künsten hielt, beginnend bei Plato, über Thomas Morus bis zum Marxismus und Nationalsozialismus, endend beim Liberalismus. Letzterer ist aus ukrainischer Sicht ja leider auch noch eine Utopie, solange die ökonomischen Voraussetzungen dafür fehlen und Großmütter ihr sowjetisches Gepäck (Traditionen und Gewohnheiten) an ihre Enkel weitergeben, und solange der Krieg tobt natürlich.
Wir sahen zu Studienzwecken Auszüge aus einem deutschen Nazi-Film von Leni Riefenstahl und den sowjetischen Stummfilm „Aelita – Der Flug zum Mars“ aus dem Jahr 1924, dem ersten Science-Fiction-Spielfilm, deutsche Erstaufführung 1969 im WDR. P. hielt dazu einen Einführungsvortrag, der auch sehr interessant war.
Ich erfuhr zwar wenig Neues, die Filme kannte ich, aber es war doch ein entspannter Abend mit deutschen Riesling und den üblichen Kriegsgesprächen in den Pausen.
Gestern war ich beim Fußball. Zum ersten Mal seit Beginn des Großen Krieges durfte Worskla wieder vor Publikum spielen, 940 waren auf der Tribüne. Die Billetts kosteten 150 Griwna, die Einnahmen wurden den Streitkräften gespendet, wie mir der Generalmanager O. erzählte. Worskla gewann knapp 2:1. Besonders in der zweiten Hälfte hatte das Spiel ein hohes Tempo und beide Mannschaften hatten gute Chancen. Wir haben den Sieg kräftig gefeiert, Whisky getrunken. Ich habe einige Leute gefragt, warum jetzt während des Krieges Fußball gespielt wird. Die meisten sagten: „Weil wir eine starke Nation sind!“. Richtig, würde man nicht Fußball spielen und keine Vorträge über Utopien und ihre Gefährlichkeit halten, so wäre das auch ein Triumph für den Feind.
Ich merkte, dass in mir das Kind im Manne wach wurde, und wie gut es mir tat, Gefühle herauszulassen und und herauszuschreien und bei so etwas Albernem wie Fußball mitzufiebern. Und ich lasse mir von ausländischen Besuchern dafür auch keine Schuldgefühle einreden. Außerdem konnte ich für ein wichtiges Thema Material sammeln und Interviews vereinbaren.
Das Schönste: Das Spiel musste nicht wegen Luftalarm unterbrochen werden! So war es ja im vorigen Jahr gewesen, als ich bei drei Spielen gewesen war.
Poltawa, 10.03.24 (Luftalarm)
Wieder ein „dekadentes“ Wochenende, aus Sicht ausländischer Besucher. Freitag ein Abend über Mario, mit Marios Freunden, die Erinnerungen erzählten und nach- und vorspielten. Mario war ein begnadeter Künstler in Poltawa und eine Kunstfigur, ein Avantgardist und Revolutionär. Ein Multi-Talent, Musiker, Maler, Regisseur, Performer, Festival-Organisator. Einer, der Freiheit vorlebte, nachdem alle dem Gefängnis Sowjetunion entkommen waren und BBC nicht mehr unter der Bettdecke hören mussten. Aber Freiheit kann auch gefährlich sein, wenn man sie ins Absolute und Grenzenlose steigern will, wenn man zu viele oder zu harte Räusche erlebt, zugleich tanzt und kifft und Geschäfte macht. Castaneda als Hausgötze, das kann schiefgehen. So wurde Mario auf furchtbar tragische Weise ums Leben gebracht.
Kurz vor seinem Tod verbrachte ich einen Abend mit ihm, in einer anderen Epoche, lange vor der Revolution und dem Krieg. Da schlug er mir gleich ein gemeinsames Projekt vor, einen Film über sein Leben. Ich sollte das Szenario schreiben, er den Rest besorgen – Regie führen, Schauspieler engagieren, die Musik komponieren und spielen etc. Wir kannten uns ersten zwei Stunden, und er hatte schon entschieden, dass sein Leben so verrückt und interessant sei, dass ich darüber schreiben müsse. Es war erst mein zweiter Abend im „Poltawskij Underground“, wie sich hier die alternative Kunstszene nennt, in Abgrenzung zur biederen, staatlich geschützten und geförderten Kunst.
Mario skizzierte mit wenigen Worten sein Leben, seinen Einsatz in Afghanistan („In Kabul!“, wie Lena anmerkte), seine Überlebensstrategien als Abenteurer, Händler, Schmuggler, Gaukler, Allround-Künstler und Vaterfigur und Ideengeber vieler junger Künstler.
Ich sah mich in der Runde um und dachte: Wenn du jeden Tag so lebst wie jetzt ist dein Leben ganz sicher filmreif. Ein ganz in Weiß gekleideter Mann mit einem langen Bart spielte psychedelische Musik auf einem Xylofon und sagte den ganzen Abend kein einziges Wort. Später merkte ich, dass er ein kluger Denker ist, der aphoristisch denken hat. (Dima Martin). Wowa Gapon hielt einen Vortrag über den Begriff der Existenz in Jean Paul Sartres Werk, in Abgrenzung zum Sein-Begriff von Heidegger und in Bezug auf den Deismus. Julia Paradisa wollte, dass ich im Schnellkurs die Geschichte der Underground-Malerei in der Sowjetunion lerne. Sie gab mir einen Bildband mit Abbildungen in der Sowjetunion gemalter Gemälde, und ich war tatsächlich verblüfft über die Frechheit, Ironie und Klugheit vieler Bilder. Tschakabaka war unser Gastgeber, ein Web-Designer und Übersetzer, begnadeter Keramiker und stets absturzgefährdeter Asket. Ich selbst versagte in mehreren Prüfungen – ich kannte viele der deutschen Musikgruppen nicht, die hier offenbar alle kannten, nicht mal Knorkator oder Can. Die Ukrainer kannten das Programm der Berlinale viel besser als ich. Die westlichen Künste waren hier genauso präsent wie in Köln oder Paris, wenn auch nicht physisch. Ich war in eine Gesellschaft freier, produktiver, ekstatischer Menschen geraten. Für sie war es normal, gleichzeitig mehrere Künste auszuüben. Legendäre Abenteurer konnte ich kennenlernen, wie meinen geliebten Freund Billy Bones, der ja leider während der Pandemie viel zu früh verstorben ist.
Gestern nun war ich zur Disco und habe getanzt. Nicht lange, vielleicht eine Stunde, aber es hat mir gut getan. Die DJs spielten Krautrock von Can, das passt gut in die Zeit, war nicht zu schrill und nicht zu seicht, aber inspirierend. Ich sollte eigentlich häufiger tanzen, Bewegung ist so wichtig, das weiß doch jedes Kind. Zumal ich keinen Alkohol trank.
Draußen, in den Rauchpassen, diskutierten wir u.a. mit Wowa Gapon über den deutschen Begriff des Gewissens, über Atheismus und Schicksal. Ich hörte bei den meisten Gesprächen nur zu, ich liebe es ja, begabten mündlichen Erzählern zuzuhören.
Komisch war, dass der Straßentrompeter auf dem Weg zum Mario-Abend „What A Wonderful World» blies. Das würde ausländischen Besuchern womöglich auch zynisch und dekadent vorkommen. Ich habe es als Aufmunterung verstanden, das Wissen um die Schönheit dieser Welt nicht zu verlieren, weiterzukämpfen.
Themen: Russland - UkraineKommentare geschlossen.