Sport in Zeiten des Krieges: Luftalarm im Stadion – die Ukrainer spielen trotzdem Fußball

Sport in Zeiten des Krieges
In der Ukraine wird weiter Profifußball gespielt, auch wenn die Begegnungen unter den Bedingungen des Kriegs stattfinden müssen. Mitunter dauert die Unterbrechung wegen eines Luftalarms länger als das eigentliche Spiel.

Das kürzeste Fußballspiel der ukrainischen Meisterschaft ging über wenig mehr als eine Minute. So lange spielten im letzten Dezember die Mannschaften Mynaj Uschhorod und Dynamo Kiew gegeneinander. Dann wurde Luftalarm ausgerufen, das Match musste unterbrochen werden. Da es im Stadion des Gastgebers keine Beleuchtung gibt, verschob man die Fortsetzung auf den Frühling. Es soll nun am 17. April ausgetragen werden.

Im Meisterschaftsspiel Worskla Poltawa gegen Dynamo Kiew am 31. März heulen die Sirenen erst 37 Minuten nach Anpfiff. Die Apps, die jeder Ukrainer auf dem Handy hat, warnen vor Angriffen mit Raketen. Alle Menschen sollen Schutzräume aufsuchen, nicht nur die fast 3000 Zuschauer, sondern auch die Spieler. Zuschauer sind erst seit Kurzem wieder zugelassen, wenn auch nur in begrenzter Zahl, denn Veranstaltungen mit vielen Menschen an einem Ort wären ein attraktives Ziel für den Feind. Die nächste Front ist weniger als 200 Kilometer vom Stadion entfernt, die Grenze zu Russland nur etwas mehr als 100 Kilometer Luftlinie. Durch Rituale wie das gemeinsame Singen der Hymne der Ukraine und eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer des Krieges wird das Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Auch vier Ausländer spielen im Team von Poltawa: aus Frankreich der Ex-Jugendnationalspieler Sambou Sissoko, aus Brasilien der Verteidiger Felipe Diadema, aus Griechenland Ardit Toli und aus Mali Ibrahim Kane.

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Wäre es erlaubt, würden vermutlich noch mehr Zuschauer ins Stadion kommen. „Die Menschen haben Depressionen und Stress, das können sie hier loswerden“, sagt der Präsident von Worskla Poltawa, Roman Tschernjak. Aber dem Verein geht es auch um die internationale Beteiligung und Sichtbarkeit: „Dass unsere Nationalmannschaft sich für die EM qualifiziert hat, ist für uns eine starke Motivation. Wenn wir hier in den Vereinen nicht spielen würden, hätten wir diese Erfolge nicht.“ Für die kommende Europameisterschaft in Deutschland sind nicht bloß die ukrainischen Männer qualifiziert, sondern auch die Jugendmannschaften U17 und U19. Am olympischen Fußballturnier (U23) wird die Ukraine ebenfalls teilnehmen.

Nach mehr als zwei Stunden wird in Poltawa weitergespielt
Auch Worskla Poltawa bildet Kinder und Jugendliche aus und betreibt eine Fußball-Akademie. „Das Große beginnt im Kleinen, eine einfache Lebenswahrheit, die sich am besten im Fußball zeigt“, heißt es im Ausbildungsprogramm. Zwar bestehe kein Zweifel, dass die Schüler „mehr Lust, Motivation und Verantwortung für die fußballerischen Ergebnisse“ aufbringen, sagt Vadym Kasimov, der Cheftrainer der Fußball-Akademie des FC Worskla. „Aber die Trainer und Ausbilder müssen unbedingt auch zu ihrer Bildung und Persönlichkeitsentwicklung beitragen.“

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Den Spiel- und Trainingsbetrieb kann der Club finanzieren, weil mit dem Eisen- und Stahlgiganten Ferrexpo ein potenter Partner großzügige Unterstützung gewährt. Der Schweizer Bergbaukonzern produziert im Gebiet Poltawa hochwertige Eisenerzpellets für den Einsatz in der Stahlindustrie. Obwohl der Krieg auch das Stahlgeschäft und den Export erschwert und Ferrexpo deshalb in den letzten zwei Jahren viel improvisieren und Umsatzrückgänge in Kauf nehmen musste, sponsert das Unternehmen weiterhin den einzigen Erstliga-Club der Region.

Das Spiel Poltawa gegen Kiew kann nach zweieinhalb Stunden fortgesetzt werden, die Apps zeigen Entwarnung. Die meisten Zuschauer haben tatsächlich gewartet und kehren zurück. Der Kiewer Spieler Tymchyk erhält in der 39. Minute eine Gelbe Karte, mehr als drei Stunden nach dem Anpfiff. Bis dahin konnte der Tabellensiebente Worskla trotz eines Gegentors eigentlich gut mit dem Tabellenvierten aus der Hauptstadt mithalten. Die Zuschauer klatschen nach jedem Ballgewinn, selbst missglückte Schussversuche werden bejubelt, einfach aus Lust an der Freude. Am Ende bekommt Worskla aber fünf Tore eingeschenkt und kann nur einen Ehrentreffer erzielen. Doch selbst der Trainer des Gegners meint, der Punktestand spiegele nicht das Geschehen auf dem Spielfeld wider. Und wenige Tage später gelingt Worskla mit einem Sieg gegen Schytomyr

der Einzug ins Finale des ukrainischen Fußballpokals, womit die Chance gewahrt wird, im nächsten Jahr am Europacup teilzunehmen. In der Meisterschaft verharrt Worskla nach einem 1:1 Unentschieden im Auswärtsspiel gegen die Favoriten von Krywbas Krywyj Rih auf dem 7. Platz.

Sportliche Regeln gelten auch im Krieg
Die sportlichen Ergebnisse sind ohnehin nicht das Wichtigste. Wichtiger ist, dass man sich von den Raketenangriffen und den täglichen bösartigen Drohungen aus Russland nicht einschüchtern lässt. 
Die kriegsbedingten Einschränkungen versucht man so gut wie möglich zu meistern. Nicht alle Vereine können wie Worskla Poltawa in ihren Heimatorten spielen, weil diese zu nah an der Front liegen oder in von den Russen besetzten Gebieten. Gleich vier Clubs nutzen das Olympiastadion in Kiew, FK Oleksandrija, Krywbas Krywyj Rih, Metalist 1925 Charkiw und aktuell auch Schachtar Donezk, das schon 2014 nach Lwiw und Charkiw ausweichen musste. Der Luhansker Club Sorja spielt im Lobanowskyj-Stadion von Dynamo Kiew, Tschornomorez Odessa in Lwiw.

Nach mehr als zwei Jahren Krieg haben Spieler und Organisatoren viel Erfahrung im Improvisieren. Das erste Spiel in der Geschichte der Ukraine, das wegen Luftalarms unterbrochen werden musste, fand schon am 24. August 2022 zwischen Rukh Lwiw und Metalist Charkiw statt. Die beiden Mannschaften kamen auf eine Spieldauer von vier Stunden und 27 Minuten, nachdem dreimal Luftalarm ausgelöst wurde. Das war lange Zeit der Minusrekord für das längste Fußballspiel der ukrainischen Premjer Liha.

Doch am 6. November 2023 spielten die Teams Dnipro-1 und Oleksandrija nochmals neun Minuten länger. Zunächst begann dieses Spiel in Dnipro aufgrund eines Luftalarms 15 Minuten später, dann mussten die Spieler zu Beginn der zweiten Halbzeit das Feld verlassen. Und eine Minute vor Ende der regulären Spielzeit musste das Match aufgrund eines weiteren Alarms erneut um weitere eineinhalb Stunden verschoben werden, einige Minuten Nachspielzeit mussten dann noch bewältigt werden. Die sportlichen Regeln gelten eben auch bei der Gefahr von Raketenangriffen.

Die kriegsbedingten Spielunterbrechungen müssen alle Spielklassen und Altersgruppen ertragen. Umso erstaunlicher sind die internationalen Erfolge der ukrainischen Fußballer. Aber inzwischen hat sich wohl herumgesprochen, dass Ukrainer immer für Überraschungen gut sind und ihr Durchhalte- und Siegeswille nicht unterschätzt werden sollte.

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Sport in Zeiten des Krieges: Luftalarm im Stadion – die Ukrainer spielen trotzdem Fußball”

  1. Realist schreibt:
    18th.April 2024 um 19:36

    Kicken im Krieg in der Ukraine — https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/frauen-fussball-ukraine-krieg-100.html — Ohne Kommentar.

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