Weshalb Russland mit Krieg viel gewinnen, mit Frieden aber noch mehr verlieren kann

Mein Gastkommentar in der NZZ: 
Gewaltkultur gegen Gesprächskultur, Staatsterrorismus gegen kommunikative Vernunft, Lust am Weltuntergang gegen politische Gesundbeterei – im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen prallen unvereinbare Realitäten aufeinander.

Im Westen ist man von Russlands Handlungsweise regelmässig überrascht, auch wegen der fast nie thematisierten Sprachbarriere. Kaum jemand im Westen hat mitbekommen, dass in Russlands Staatsfernsehen der Krieg gegen die Ukraine jahrelang gedanklich vorbereitet und begründet wurde.

Stundenlange Hetzreden gegen eine angebliche faschistische Junta in Kiew, Kübel von Dreck und Spott über westliche Politiker, die Friedensverhandlungen führen wollten, Drohungen mit Atomschlägen und der Vernichtung westlicher Städte und Länder, das war die Propaganda-Realität. Weit weniger Sendezeit wurde für innenpolitische Themen verwendet, und für Probleme in Russland war natürlich nicht die Regierung, die Korruption, die fehlende Gewaltenteilung oder die Unterdrückung von Bürgerinitiativen verantwortlich, sondern der Westen oder Naturgewalt.

Gesetz und Verbrechen

In den westlichen guten Stuben erkundet man die russischen Machtverhältnisse gern mit Instrumenten der Kreml-Astrologie, mit der Personalisierung gesellschaftlicher Widersprüche in Putin, mit Meinungen und Hypothesen, selten aber mit fundiertem Wissen und mit landestypischen Erfahrungen. Nur wenige Spezialisten vermögen die Verquickungen von Staat, Wirtschaft, Mafia und Geheimdiensten in Russland aus eigener Anschauung zu ermessen, ebenso wenig die Konkurrenzkämpfe innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes oder die traditionellen Feind-Freundschaften zwischen dem Militär, dem Inlandsgeheimdienst oder der islamistischen Kadyrow-Polizei.

Putin verkörperte und symbolisierte schon vor seiner ersten Präsidentschaft die Ununterscheidbarkeit von Gesetz und Verbrechen. In den neunziger Jahren war er in St. Petersburg der «Verbindungsmann» zwischen dem Inlandsgeheimdienst KGB/FSB, dem demokratisch gewählten Bürgermeister Sobtschak und der Tambow-Mafia, welche Seehäfen, den Öl- und den Drogenhandel kontrollierte. Putin erteilte als Beamter der Petersburger Stadtverwaltung Lizenzen an die Mafia-Organisation.

Russlands Mafia-Staat kleidet sich auch gern mit dem Mantel der Legalität.

Das Phänomen der gemeinschaftlich organisierten Korruption war nicht neu, aber es genoss nach 1991 in der ungezähmten neuen Marktwirtschaft unendlich mehr Freiheiten. In der Sowjetunion waren kriminelle Organisationen die Avantgarde gegen die zentralistische Planwirtschaft. Dissidenten und Bürgerrechtler kämpften für moralische und rechtliche, die Mafia-Organisationen für ökonomische Freiheiten.

In der Planwirtschaft herrschten von jeher «informelle Beziehungen», Naturalwirtschaft und Tauschhandel ergänzten die notwendigerweise chaotischen Planungen. Der Staat bildete eine Symbiose mit dem organisierten Verbrechen, auch wenn er es aus taktischen Gründen manchmal bekämpfte.

Jeder Wirtschaftszweig hatte seine eigenen Mafia-Strukturen und diese ihre branchenbezogenen Besonderheiten. Die bekanntesten waren die Transport- und Hafen-Mafia, die Fischerei-, Diamanten-, Gas-, Kohle- und Waffen-Mafia. Die Mängel der zentralen Planwirtschaft wurden auf allen Ebenen der Gesellschaft kreativ ausgenutzt, denn Volkseigentum bedeutet schliesslich, dass allen alles gehört, also können sie auch so viel nehmen, wie sie wollen.

Die Gäste warten lassen

Im Westen hat man im Vorfeld des Ukraine-Krieges nicht verstanden, dass ehrlich gemeinte Gesprächsangebote im Geiste des Friedens und der freundlichen Zusammenarbeit und mit dem Ziel, Kompromisse zum gegenseitigen Vorteil zu finden, von Putins Seite als Versuch verstanden werden (müssen), ihn um den Finger zu wickeln und zu bestechen, gar zu verspotten.

Die Vorstellung, dass «universelle Regeln, die er nicht selbst definiert hat, für alle gelten sollen, ist für ihn unerträglich», analysierte die französische Russland-Expertin Françoise Thom. «Sein Feindbild ist der Universalismus: Putin ist ein Outlaw im wahrsten Sinne des Wortes.»

Und so inszenierte er sich auch in der Weltöffentlichkeit, etwa mit seiner «Angewohnheit», Präsidenten und Staatsoberhäupter warten zu lassen. Gutmütige Westler, welche die Gewaltkultur in Russland nicht kennen und ihre Symbole nicht lesen können, bewerteten dies gern als flegelhaftes Verhalten und verzeihliche Unpünktlichkeit. Aber es war eine genüssliche Ausübung von Macht gewesen, womit er insbesondere auch den Bossen zu Hause zeigte, wie wichtig Russland dank seiner Kaltschnäuzigkeit und Dominanz war. Ohne Russland geht gar nichts, alle brauchen Russland und ordnen sich mir unter, lautete die Botschaft.

Putin riskierte den Eklat, dass die Wartenden die Treffen absagen, auf eine Unhöflichkeit mit einer Unhöflichkeit antworten. Was aber niemals geschah. Den Papst liess er 50 Minuten warten, Angela Merkel – als Spitzenreiterin – 4 Stunden und 15 Minuten. Symbolisch gesehen hat sich Deutschland damit am tiefsten vor Russland erniedrigt. Selbst der ukrainische Präsident Janukowitsch musste nur 4 Stunden warten, US-Präsident Barack Obama immerhin 40 Minuten. Bloss zu Treffen mit dem Präsidenten Chinas erscheint Wladimir Putin immer pünktlich.

Um die Macht in Russland zu verstehen, muss man ihre Doppelbödigkeit erkennen und die Taten von der Rhetorik unterscheiden. «Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben», lautete schon die „Moskauer“ Direktive Walter Ulbrichts für den Aufbau des Stalinismus in der DDR.

Russlands Mafia-Staat kleidet sich auch gern mit dem Mantel der Legalität, produziert Gesetze, unterhält ein Parlament, simuliert freien Meinungsaustausch. Aber die wichtigen Entscheidungen werden nicht von Gerichten oder der Zivilgesellschaft getroffen, sondern in informellen Absprachen. Im Hinterzimmer steht die Schlachtbank, am Rednerpult inszeniert sich der Präsident als allwissender Moralist im Kampf gegen westliche Dekadenz und westlichen Satanismus.

Im Westen reagiert man empört auf staatliche Verbrechen in Russland, in Russland aber lehrt man an Akademien und Universitäten der «Sicherheitsdienste» das Verbrechen als Wissenschaft im Dienste des Staates. Der foltererfahrene Geheimdienst führt Regie, ob bei Giftmorden oder Hetzkampagnen gegen Minderheiten oder andere Staaten.

Das Recht des Stärkeren

Eines der wichtigsten Kriegsziele Putin-Russlands ist die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren, die Herrschaft der rohen Gewalt, der Prinzipien der Mafia-Kultur im globalen Massstab. «Die eigentliche Botschaft ist das Verbrechen. Das Verbrechen nur um des Verbrechens willen ist die Definition des Bösen», schreibt der französische Philosoph Nicolas Tenzer in seinem neuen Buch «Notre guerre».

Russland kann im friedlichen Wettbewerb mit entwickelten Ländern nicht mithalten. Seine Innovationskraft ist bescheiden, seine Soft Power angsteinflössend, seine demografische Entwicklung düster, die Gewalt gegenüber Frauen weltrekordverdächtig. In Bezug auf Frieden und Freiheit ist der Westen Russland in allen Belangen haushoch überlegen. Er ist ökonomisch weitaus flexibler, produktiver und stärker, diplomatisch und kulturell besser vernetzt, bietet seinen Bürgern die höhere Lebensqualität, hat die produktivere Selbstorganisation und deshalb mehr Handlungsmöglichkeiten.

Putins Russland fühlt sich aber körperlich (militärisch) stärker, weil es bereit ist, rohe Gewalt zum Erreichen seiner Ziele einzusetzen. Mindestens will es Schutzgeld vom Westen haben, Mitspracherechte, «Einflusszonen» – und die Regeln bestimmen.

Durch Kriege kann Russland unendlich viel rauben und gewinnen, im Frieden nur verlieren. In der Ukraine kann es Bodenschätze gewinnen, Getreide, Arbeitskräfte, Immobilien, Fabriken, Wasser für die okkupierte Krim. Mit Krieg kann es den Green Deal zwischen der Europäischen Union und der Ukraine verhindern, denn «grüne» ukrainische Energie bedroht den Verkauf von Russlands fossilen Energien.

Im Frieden schwindet die Bevölkerung in Russland und der Anteil der Russen an ihr, während jener islamischer Nationalitäten wächst. Mit Krieg will Putin die demografische Katastrophe in seinem Land abschwächen. Russen würden in der Ukraine gegen ihren Willen zu Ukrainern gemacht, behauptete er in seiner Schrift. Er will sie angeblich vor der ukrainischen Verwestlichung retten. Deshalb entführen die Russen Kinder aus der Ukraine, wird in den besetzten Gebieten eine brutale Russifizierung durchgesetzt.

Die Verluste im Krieg waren in diesem Ausmass nicht geplant, man wollte die Ukraine ja in wenigen Tagen besiegen. Dass aus Putin-Russland selbst viele junge gebildete Menschen ausreisen und die Demografie auch politische Gründe hat, thematisiert der Kriegsherr im Kreml nicht, sonst müsste er über das Versagen seiner eigenen Politik sprechen. Der Krieg ist eine typische Projektion innerer Probleme nach aussen, eine Kompensation der Angst vor der Bedeutungslosigkeit in einer globalisierten Welt.

Im Westen verstehen nur sehr wenige Analytiker und Politiker, dass rationale Kosten-Nutzen-Kalkulationen und klassische strategische Analysen des Kriegs im Umgang mit Russland zu kurz greifen. «Sie gehen von einer Rationalität aus, die auf russischer Seite nicht existiert», erkennt der Politikanalyst Richard Herzinger. «Putins Russland geht es nicht um einen Sieg im herkömmlichen Sinne, sondern darum, unter seinen vermeintlichen Feinden maximale Zerstörung anzurichten. Es kann nicht anders, als den Krieg immer mehr auszuweiten, weil die entgrenzte Gewalt sein einziger ‹Wert› und Daseinszweck ist.»

Das grösste Land der Erde fühlt sich zu klein, dafür sollen die Nachbarstaaten Verständnis haben. Russland will wieder «Gendarm Europas» sein wie im 19. Jahrhundert. Ein Gendarm allerdings, der auch das Denken bestimmen will und den man lieben soll, weil er so ein fleissiger Mordbube ist. 

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Weshalb Russland mit Krieg viel gewinnen, mit Frieden aber noch mehr verlieren kann”

  1. Realist schreibt:
    16th.April 2024 um 16:09

    Zur Ergänzung: Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets, hat in dem heutigen englischsprachigen Artikel von UKRINFORM verdeutlicht, wie es in der ru. Welt zugeht. — https://www.ukrinform.net/rubric-society/3853056-ombudsman-russia-not-releasing-civilians-as-witnesses-of-atrocities.html

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