Notizen zum Krieg

Notizen zum Krieg (1), Слов’янськ, 22.05.2024
Schrecklich, diese rohe Sprache und dieses rohe Denken, in der manche Ausländer, die im Frieden leben, über den Krieg sprechen. „Du bist entweder Journalist oder Aktivist; als Aktivist bist du kein objektiver Journalist mehr“, schrieb mir neulich jemand.

Da rieselt es mir kalt den Rücken herunter. Oder wie sagt der Affe Rotpeter über einem lügenden Journalisten in Franz Kafkas „Bericht an eine Akademie“: „Dem Kerl sollte jedes Fingerchen seiner schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden!“ Da ich kein Affe bin, denke ich so etwas natürlich nicht.
„Objektiver Journalismus“, schon das ist ein endloses Thema. Objektiv falsch waren jedenfalls erwiesenermaßen sehr viele Ukraine-Berichte in der ausländischen Presse vor dem Jahr 2022. Gespaltene Nation, gespaltenes Land, die Ukrainer werden schnell kapitulieren (müssen), Russland ist unbesiegbar – man kennt die Märchen und die Märchenerzähler und Spinnerinnen aus den Feuilletons und Talk-Shows, aus der Unterhaltungsindustrie. Für die Ukrainer tödliche Märchen, weil man sie aufgrund dieser Märchen kaum oder gar nicht militärische unterstützte – sondern lieber an den Aggressor Militärtechnik verkaufte, mit freundlicher Genehmigung der Bundesregierung.

Nächster Einwand gegen das Entweder-Oder Journalist oder Aktivist: Ich kann vieles gleichzeitig tun. Ich kann nüchtern, sachlich und wahrheitsgemäß schreiben, denken und Szenarien entwerfen, ich kann den Transport medizinischer Güter an schwerverletzte Freiheitskämpfer organisieren, und ich kann auch den Secondhand-Kriegsverbrechern im Ausland moralische Vorwürfe machen. Nichts schließt sich aus.
Zu „Du bist“: Identität ist eine der schlimmsten zerstörerischen, Genuss-feindlichen Vokabeln der westlichen Moderne. Identität wird meist passiv verstanden, als Besitzstandswahrung. Das Subjekt will sich selbst gehören, nicht ausgeliefert sein, deshalb kasteit es sich. „Das zum Matrosen geboren Kinder lernt zwar schwimmen, aber nur in einer Pfütze“, so beschrieb Franz Kafka diese Identitätskultur.

Der Westen und seine Illusionen, ein endloses Thema. Schon einen Tag nach Mauerfall, auf der Feier meines 27. und schönsten Geburtstags, sprachen wir ostdeutschen Intellektuellen und Heiner-Müller-Verehrer in Berlin darüber, dass wir von einer tragischen, selbstzerstörerischen, sich selbst betrügenden, zum Verschwinden verurteilten Gesellschaft in die nächste gekommen waren. In eine viel schönere Welt zweifellos, aber doch eine, die tragisch enden muss. Wir hatten eine Fahrt auf der Titanic gebucht, weil keine anderen Billetts im Angebot waren.
Die wirkungsmächtigste Ursache für den zwanghaften Selbstbetrug, die Realitätsverweigerung angesichts existentieller Gefahren, ist m.E. das säkularisierte Schwarz-Weiß-Denken. Christliche und vorchristliche Kulturen pflegten meines Wissens mindestens Dreier-Modelle zur Erklärung und Deutung der Wirklichkeit.
Wasser, Eis oder Dampf; Vater, Sohn und Heiliger Geist; aus Nichts entsteht etwas, dass sich selbst verneint.
Die heutige Selbstbeschreibung „Wissensgesellschaft“ entbehrt nicht der Komik. Je mehr Wissen über die Gattung Mensch und seine Lebensgrundlagen theoretisch verfügbar ist, desto mehr Unwissenheit, Irrtümer und Selbstliebe produziert diese Gattung doch auch. Selbst da, wo unzählige Experten und Institutionen zielstrebig und planmäßig nach Wissen in bestimmten Bereichen streben, entstehen notgedrungen für die an diesem Streben Unbeteiligten größere Wissenslücken als in vormodernen, mündlichen Kulturen. Mit Hilfe von Rauchzeichen können Informationen genauer übertragen werden als mit Hilfe elektronischer Systeme, weil Rauchzeichen auf das Wesentliche beschränkt sein müssen. Moderne Wissenschaften haben ja laut Jacob Taubes die Aufgabe, gesellschaftliche Probleme zu verschweigen – und zu erfinden und so neue Märkte zu schaffen. In Abwandlung eines chinesischen Sprichworts könnte man sagen, starke Reiche gehen nicht nur an zu vielen Gesetzen, sondern auch an zu viel Wissen über sich selbst und ihrem Selbstbewusstsein zugrunde. Eine der für die Radikalisierung einzelner Gruppen, für Fundamentalismus und Fanatismus, ist schlichtweg der Zwang zur Vereinfachung, gespeist aus Überforderung, sich in der Flut der Informationen zurechtzufinden und in der unendlichen Komplexität moderner Wirklichkeiten. Deshalb ist „gefühltes Wissen“ so beliebt. Ausländische Tagesgäste „fühlen“ „die Stimmung“ im Krieg. „Bauchgefühle“ eines Bundeskanzlers entscheiden anderswo über Leben und Tod.

Notizen zum Krieg (2), Слов’янськ, 22.05.2024
Ich erinnere mich gerade an meine erste peinliche Situation in der Ukraine. Im Jahre 1999, als ich meinen Freund Kolja in Donezk besuchte und ihn als Russen bezeichnete, eben weil er Russisch sprach. Er empfand das als Beleidigung und erklärte mir, dass Russland ihm völlig unbekannt sei und nichts ihn dorthin ziehe. Im Donbas, nur drei Panzerstunden von der Grenze zu Russland entfernt!
Kolja lebte und arbeitete sehr gern Berlin und Lemberg, da konnte er als Handwerker etwas lernen, neue Technologien, das reizte ihn; außerdem die Vielfalt unter den Menschen. Er war ziemlich groß, hatte in der Jugend gegen einen der Klitschkos geboxt, und er liebte es, asiatische Frauen in Restaurants arbeiten zu sehen; besonders über ihre im Vergleich zu seinen winzig kleinen, flinken Hände staunte er. Mit Ausbruch des Krieges 2014 fuhr er mit seiner Familie aus Donezk weg in die freien westlicheren Gebiete der Ukraine; unter russischer Besatzung zu leben war für ihn undenkbar.
Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Ländern war für Kolja die höhere Brutalität in Russland – unter Männern, in der Armee und in den Gefängnissen, in Mafia-Kämpfen und innerstaatlichen Kriegen wie in Dagestan und Itschkeria, bei der Gewalt gegen Frauen, der Zahl und dem Elend der Straßenkinder, der Allmacht des Inlandsgeheimdienstes. Er wollte friedlich und unbehelligt leben. Leider verstarb er viel zu früh, sein Herz versagte.

Übrigens ist ein ukrainische Nationalbewusstsein nicht erst in der souveränen Ukraine entstanden, es war auch in der Sowjetunion und früher sowieso vorhanden. Auch das wird im Ausland oft unterschätzt. In der Sowjetunion auch deshalb, weil es den Ukrainern von den anderen sowjetischen Nationalitäten als Stereotyp „aufgedrückt“ wurde. Darüber kenne ich zahlreiche Berichte bspw. aus der Roten Armee. Jeder der Nationalitäten wurden Klischees angedichtet, ein völlig normaler Vorgang der Vereinfachung und Musterbildung. Man unterschied sehr wohl zwischen Russen und Ukrainern. Erstere waren in der Mehrheit, letztere galten als besonders gewitzt und geschickt; und Moldawier bspw. als feierwütig, um es höflich auszudrücken.
Wie stark dieses ukrainische Nationalbewusstsein gewesen sein muss, zeigte sich ja, als fast alle in der Ukraine lebenden Menschen (92% bei 84 % Wahlbeteiligung) für die Unabhängigkeit des Landes stimmten – trotz gegenteiliger Ratschläge der USA!
Auch wünschten sich immer nur wenige Prozent der Ukrainer eine staatliche Einheit mit Russland (auf der Krim bei den letzten freien nur Wahlen 4 %, im Donbas nach dem Maidan 7%). Manche ältere Ukrainer träumten aber sinnloserweise von einer Rückkehr zur Sowjetunion. In der ausländischen Presse, im westlichen Gefühlsjournalismus, werden beide Wünsche aber meistens vermengt unter dem Etikett „pro-russisch“.

Themen: Literatur

6 Kommentare to “Notizen zum Krieg”

  1. Realist schreibt:
    29th.Mai 2024 um 17:37

    Meine Meinung zu Notizen zum Krieg (1), Слов’янськ, 22.05.2024: Wie viele ostdeutsche Intellektuelle gab es einen Tag nach dem Mauerfall und war der andere Teil der Bevölkerung der vormaligen DDR nicht intellektuell? – Entschuldige bitte, dass ich aus denen für mich nebulös erscheinenden Ausführungen keine Quintessenz entnehmen kann. Vermutlich soll ein Identitätsproblem aufgezeigt werden, das man dem Grunde nach wie folgt lösen kann. Raus aus dem Hamsterrad der Gedanken und auf dem Meditationskissen Platz nehmen. Übrigens, eine friedvolle Art der Selbstwahrnehmung ist für alle Völker dieser Erde geeignet.

  2. Realist schreibt:
    29th.Mai 2024 um 19:22

    Meine Meinung zu Notizen zum Krieg (2), Слов’янськ, 22.05.2024: Im Russisch-Unterricht an einer vormalig West-Berliner Realschule, mussten wir alle SSR der UdSSR auswendig lernen. Die Besonderheit der damaligen Ukrainischen SSR bestand darin, als Kornkammer der Sowjetunion bezeichnet zu werden und die Krim gehörte lt. Schulatlas farblich zur Ukrainischen SSR. Über die Holodomore und andere Grausamkeiten erfuhren wir in der Schule absolut nichts. Während all der bisherigen Aufenthalte in Kyjiw, habe ich mich kein einziges Mal an die Sehenswürdigkeiten Moskaus erinnert, die Bestandteil des Unterrichts waren.

  3. Honigdachs schreibt:
    30th.Mai 2024 um 05:29

    Ich sprach von Intellektuellen auf meiner Geburtstagsfeier. Da waren fünf, wenn ich korrekt erinnere. Als Intellektuellen bezeichne ich jemanden, der im weitesten Sinne mit gedanklich-künstlerischer Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreitet.

  4. Realist schreibt:
    31st.Mai 2024 um 18:09

    Der Duden definiert Intellektueller 1. männliche Person, die wissenschaftlich [oder künstlerisch] gebildet ist und geistig arbeitet sowie 2. im Verhalten hauptsächlich vom Verstand bestimmter Mensch. Nun sind sämtliche Unklarheiten beseitigt und mein Allgemeinwissen erweitert.

  5. Honigdachs schreibt:
    1st.Juni 2024 um 06:13

    Wenn „männliche Person“, ist es bestimnmt eine alte Auflage des Duden.

  6. Realist schreibt:
    1st.Juni 2024 um 19:30

    Intellektueller (m/w/d) ginge wohl auch, wobei wissenschaftlich gebildete Menschen nicht mehr per se absolute Wahrheiten verbalisieren. Spätestens, wenn offensichtlich keine Übereinstimmung zwischen Behauptung und objektivem Sachverhalt besteht, müssten bei normal begabten Vernunftsmenschen die Alarmglocken schellen. Die daraus folgende kognitive Dissonanz müsste nach wissenschaftlichem Erkenntnisstand unangenehme Empfindungen wecken.
    Wenn also Intellektuelle (m/w/d) in öffentlichen Massenmedien ihre sogenannten Meinungen verbreiten, lohnt es sich in jedem Fall auf Wahrheitssuche zu gehen.
    Konkret formuliert, kann sich die Ukraine nur dann wirkungsvoll verteidigen und ihre Völkerrechte durchsetzen, wenn zumindest ausreichend befähigtes Personal sowie geeignete Waffen zur Bekämpfung von militärischen Zielen im eigenen und im Feindesland vorhanden sind. — Soviel Mut zur Wahrheit sollte doch jeder wisschenschaftlich gebildete Mensch aufbringen können, der sich öffentlich zum Krieg gegen die Ukraine äußert.

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