Sanatorium, Schach, Black Metal und ein soziales Experiment: ein Mann im Rock
Notizen zum Krieg (7) – Poltawa, 06.07.20224
Gestern war wieder ein gelungener Tag. Vormittags habe ich gelesen und geschrieben, dann Hauptmann V. im Sanatorium besucht (12.000 Schritte gelaufen), mit ihm Schach gespielt und für abends zum Konzert verabredet, zusammen mit zwei anderen Freunden. Folk war angekündigt, aber es war Hardrock, Black Metal. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, manchmal möchte man schreien. Dort konnte man es tun, ohne in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Rockkonzerte im Krieg haben eine heilende soziale Funktion, konnte ich sehen.
Ich spielte mit Hauptmann V. aber lieber wieder Schach, an der Bar vor der Konzerthalle. Die Musik hörten wir dort ja auch. V. hat wohl nie ein Schachbuch gelesen, keine Theorien studiert, aber er kennt einige klassische Eröffnungen und knobelt gern. Er möchte immer gleich das Zentrum besetzen (richtig!), aktiviert die Leichtfiguren, rochiert, schützt also den König, die Befehlszentrale. Er spielt solide, ohne eine Spur von Bösartigkeit (doch das ist eine Schwäche, Schach ist ein Kampfsport, da sind die niedersten Instinkte elementar wichtig).
Gestern sagte er: „Wenn ich gegen dich spiele, ist alles anders als sonst, als wenn ich gegen andere spiele. Entweder du nimmst mir gleich die Luft zum Atmen oder du verschließt deine Stellung so, dass ich überhaupt keine Angriffsfläche sehe, oder du erzeugst Chaos, so dass ich ganz verwirrt bin.“
Ich wende nur mein schachliches Grundwissen an, rechne nicht alle spannenden Varianten durch, es ist ja Kneipenschach. Also Figuren aktivieren, Freiräume sichern, taktische Möglichkeiten vorbereiten, Widersprüche, Chancen und Risiken erkennen (Schach ist ein Kompensationsspiel!). Ich habe das Spiel noch mit Büchern gelernt, hatte einen brillanten Lehrer (Berliner Schachmeister!) und habe im Vereinsschach viele meisterhafte Partien gesehen.
Hinzu hinzu kommt natürlich meine Lust, den Gegner in die Irre zu führen, zu quälen, ihn an überraschenden Stellen anzugreifen, also weh zu tun. Man kann getrost von schachlichem Sadismus sprechen. Beim Schach schreit man nicht wie beim Rockkonzert, aber man schärft liebevoll die Instrumente, mit denen man den Gegner schwächen kann. Und nie vergessen: Die Androhung einer Handlung ist oft wirksamer als ihre Ausführung, siehe nukleare Drohungen. Man kann gegnerische Kräfte auch durch die bloße Ankündigung von Aktionen binden,
Militärisches haben wir mit Hauptmann V. auch einiges beredet, aber das gehört nicht in die Öffentlichkeit bzw. vieles davon ist der interessierten Öffentlichkeit ohnehin nicht unbekannt.
Im Sanatorium heilt V. eine schwere Verletzung eines Beines aus, nach dem Beschuss durch eine Drohne. Als ich ihm von den 60 Metern erzählte, die W. in seiner Position vom Feind trennen, meinte V., dass seine Jungs jetzt auch in kurzer Entfernung zum Feind stehen. Aber 60 Meter, das sei tatsächlich sehr wenig. –
Noch sehr interessant: Beim Konzert war auch ein Mann, der keine Hose, sondern einen langen blauen Rock trug. Ein Freund stellte uns einander vor. Er hatte von mir gehört, kannte meinen Namen. Er kann vier oder fünf Sprachen sehr gut, und noch einige so halb und halb, darunter Deutsch, Estnisch und Spanisch. Sprachen lernen ist eines seiner Hobbys. Also redeten wir in einem Ukrainisch-Russisch-Deutschen Poltawaer Surschik. Über seinen langen blauen Rock erzählte er, dass man ihn hier in Poltawa deswegen immer wieder beschimpfe und beleidige, in Charkiw aber nicht !!! Er hatte erst vor Kurzem ein Konzert in Charkiw gehabt, kann dort unbehelligt in seinen Röcken spazieren gehen; er liebt die Stadt und die Freiheit dort. Röcke sind ihm bequemer als Hosen, aber nicht, weil er schwul sei. Denn das sei er nicht.
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