Jürgen Habermas auf hohem Ross

Notizen zum Krieg (8), Poltawa, 24.07.2024
Kein guter Start in den Tag. Kaum geschlafen. Zwei Mal bin ich kurz nach dem Einschlafen von den Sirenen geweckt worden. Dazu die Hitze in der Wohnung (28 – 29 Grad) und die sirrenden Blutsauger.
Nach dem Frühstück Interview für den Hessischen Rundfunk, der Moderator Sebastian Schreiber war sehr sympathisch und kompetent. Nur mir kam alles banal vor, was ich sagte. Keine originellen Formulierungen. Ich konnte wählen, Aufzeichnung oder Live, und wählte die Aufzeichnung, was ein Fehler war, mir fehlte die Anspannung.
Der Moderator fragte u.a., warum ich weiterhin in Poltawa lebe. Ich sagte das Übliche (Helfen können, Freunde nicht im Stich lassen, auch: Anerkennung und Respekt für mein Hierbleiben zu bekommen – wie z.B. gestern auf dem Markt von einer Salat-Verkäuferin).

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Aber etwas Wichtiges vergaß ich: Ich genieße das Privileg, den Krieg mit eigenen Augen sehen zu können und meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Erzählungen der Zeugen des Sofas und denen der ausländischen Tagesgäste vergleichen zu können. Beispielsweise mit dem Habermas-Märchen mit wissenschaftlichem Anspruch, das ich gestern in der taz las.
Typisch für diese Art kategoriales Fallball-Denken ist der Begriff der Mentalität als wirkungsmächtigste Ursache. Wenn schon der „Meisterdenker“ Habermas mit solch einer schwammigen Vokabel die ungeheuer komplexe Wirklichkeit zu deuten versucht, dann muss man sich nicht wundern, dass im deutschen Tages-Journalismus der Begriff der Stimmung der populärste in der Kriegsberichterstattung ist – als wäre der Krieg eine Party.
Es sei „einfach informativ und nützlich, sich die Mentalitäten klarzumachen, aus denen sich – ganz unabhängig von der eindeutigen völkerrechtlichen Beurteilung des Krieges – verschiedene Perspektiven auf Art, Ursache und Fortgang des Konflikts ergeben“, sagt Habermas.

„Ganz abgesehen von deutschen Befindlichkeiten (!) halte ich die historisch geprägten Unterschiede zwischen den politischen Mentalitäten der drei so oder so am Krieg beteiligten Parteien überhaupt für aufschlussreich. In Russland hat sich – nach dem Untergang des osmanischen und des österreichisch-ungarischen Reiches im Ersten Weltkrieg – der versteinerte Rest einer imperialen Mentalität erhalten. Diese trifft nun auf den vom Krieg entflammten Nationalismus der Ukrainer, während im Westen, vielleicht am stärksten in der Bundesrepublik und am schwächsten im United Kingdom, wenigstens die Hoffnung auf die Verbreitung jenes postnationalen Geistes bestanden hatte, aus dem ja am Ende des Zweiten Weltkrieges die Menschenrechtsordnung der Vereinten Nationen hervorgegangen ist.“

In Russland hat sich also „der versteinerte Rest einer imperialen Mentalität erhalten“. Wieso Rest? Und Profitstreben und materielle und ökonomische Zwänge entfalten keine Wirkungen? Von der Materie haben wir noch nichts gehört?
Und nach welchen Kriterien entscheidet Habermas, dass der „vom Krieg entflammte Nationalismus der Ukrainer“ kein (Verfassungs-)Patriotismus ist, wie er auch in Deutschland als normal gilt, selbst in Friedenszeiten, nur in der Ukraine angesichts des drohenden Völkermords euphorischer und emphatischer ausgedrückt?
Habermas ist natürlich gekränkt, dass seine alt-bundesdeutschen Vernunft-Märchen von der Rückkehr des existentiellen Krieges in Europa widerlegt werden. Man kann es verstehen, er ist traurig, leistet aber keine Trauerarbeit. Habermas glaubt, man könne in der Geschichte etwas „überwinden“, etwa die Barbarei oder staatlichen Terrorismus. Er kann den Gedanken nicht zulassen, dass Nationalismus progressiv sein kann und zu jeder Zeit und in jedem Land etwas anderes bedeutet. Ukrainer werden ermordet, weil sie Ukrainer sind, aber sie sollen darauf verzichten, ihre Ukrainisch-Sein als etwas Besonderes zu empfinden? Die Deutschen haben gut reden, sie mussten ja noch nie in ihrer Geschichte gegen einen Feind kämpfen, der sie und ihre Kultur und Sprache und Kunst vernichten wollte.
Habermas: „Wir haben in der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert gebraucht, um zu unserer eigenen nationalistischen, überdies durch Menschheitsverbrechen extrem belasteten Vergangenheit den gebotenen kritischen Abstand zu gewinnen.“
Er hätte sagen sollen: Wir haben „die höhere Moral“ entwickelt, weil die lieben guten USA unsere Staatlichkeit und Sicherheit garantiert haben. Aber das haben sie mit der Ukraine leider nur auf dem Papier gemacht, und gleichzeitig haben sie ihr die besten Waffen und Trägersysteme quasi abgenommen und an Russland übergeben und somit die Existenz der Ukraine in furchtbarer Weise gefährdet.

Aber Habermas behauptet sogar: „Unter Führung der USA hält der Westen den Krieg gewissermaßen am Laufen – ohne erkennbare Versuche, ihn einzudämmen.“
Wie man Völkermord mit Diplomatie „eindämmen“ könnte, das erklärt er nicht,
aber auf jeden Fall bleibt er seinem moralischem Rigorismus treu:
„Ganz unabhängig vom Widerstandswillen der Ukrainer trägt der Westen mit seiner logistischen Hilfe und seinen Waffensystemen eine Mitverantwortung für die täglichen Opfer des Krieges – für jeden weiteren Toten, jeden weiteren Verwundeten und jede weitere Zerstörung von Krankenhäusern und lebenswichtigen Infrastrukturen.“
Nun, der Westen trägt Mitverantwortung, weil er den Ukrainern zu wenige Waffen und zu wenig Munition liefert. Und wenn von den täglichen Opfern des Krieges die Rede ist, dann sollten damit ukrainische Opfer gemeint sein. Die Okkupanten sind keine Opfer.

Themen: Russland - Ukraine

3 Kommentare to “Jürgen Habermas auf hohem Ross”

  1. Grygorii schreibt:
    4th.August 2024 um 07:35

    Brumme ist ein klarer Denker und tief einsichtig

  2. Honigdachs schreibt:
    5th.August 2024 um 07:54

    Vielen Dank fürs Kompliment!

  3. Blogmonat September 2024 – Alexander Preuße schreibt:
    3rd.Oktober 2024 um 19:37

    […] Wort des Monats: »Zeugen des Sofas«. Gefunden auf dem Blog von Christoph Brumme, dem deutschen Schriftsteller, der in der Ukraine lebt, und im Gegensatz zu vielen […]

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