Notizen über Ziegelsteine, das Radfahren, deutsche Mörder und deutsche Polizisten, und: Karl Marx über die Feigheit des Westens im Umgang mit Russland

Poltawa, 5.1.2025
Schöner Sonntagmorgen, erst drei Mal Luftalarm. Sonnenstrahlen scheinen auf rotes Gemäuer. Seit jeher ein meditativer Anblick für mich: Ziegelsteinmauern mit HANDGEBRANNTEN Steinen. Ich habe ja selbst jahrelang als Maurer gearbeitet, im Straflager Kindheit und freiwillig, um meine Studien zu finanzieren. Als ich aber 25 Jahre später in einer ukrainischen Bauarbeiterbrigade mithelfen durfte, merkte ich, dass ich die Technik zwar noch beherrschte – die rauen Steine zu greifen, mit Beton einzuschmieren, anhand der Richtschnur und mit der Wasserwaage die Ziegel dann sorgfältig versetzt aufzuschichten. Aber Kraft und Ausdauer waren lächerlich gering. 200 Kilometer radeln am Tag, kein Problem, im Gegenteil, das ist fröhlicher Rausch, Genuss um seiner selbst willen. Nirgendwann habe ich so schöne Vorträge gehalten wie mir selbst beim Radeln durch die Ukraine. Nirgendwo habe ich beim Radeln solche Freiheit erlebt wie hier. In Deutschland sprang, statistisch gesehen, alle 80 Kilometer ein deutscher Ordnungsbürger aus dem Gebüsch, wenn ich am Sonntagmorgen bei Rot autofreie Straßen überquerte, und er schrie: „Strafe zahlen!“ oder „Ich rufe die Polizei!“. In Polen hupte oder schrie niemals ein Autofahrer, weil ich ihm im Wege war, wie ich das von Deutschland kannte. Die Polizei brachte mich am Sonntagmorgen ins nächste Restaurant, als ich „versehentlich“ auf einer autofreien Autobahn radelte, natürlich, ohne dass ich Strafe zahlen musste. In der Ukraine aber lud die Polizei mich oft zum gemeinsamen Erholen ein, vulgär gesagt zu Sauftouren, sogar an der Grenze und am frühen Morgen. Die Vorstellung, dass dich jemand anschreit, weil du Regeln verletzt, die in diesem Moment völlig unnötig sind, und deren Verletzung niemandem weh tut – ist gänzlich irreal.
Zurück zu den handgebrannten Steinen. Ich weiß also die physische Arbeit zu schätzen, und wohl auch deshalb beglückt es mich, eine Ziegelsteinmauer anzusehen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass jeder Stein eine Geschichte erzählt. Der Maurer, der ihn zum Ganzen gefügt hat, ist lange schon verstorben. Die Kriege, die die Mauer überlebt hat, wurden nicht so gründlich gefilmt wie der heutige. Vielleicht hatten sich hinter dieser Mauer die deutschen Mörder einquartiert, die wenige Tage nach Beginn der Okkupation Poltawas viele jüdische Mitbürger ermordeten, nicht weit hinter dem heutigen zentralen Markt. Jene Mörder, welche die damals achtjährige Klawdia zu einem Teller Suppe einluden. Das Mädchen war am Tag nach dem Massenmord am Rande des Geländes gewesen, wo die Erde noch atmete, wo noch dumpfes Stöhnen in der Erde zu hören war, weil unter den vielen Toten noch einige Menschen noch lebten. Und das Mädchen hatte Hunger und wusste, dass es die Mörder waren, die sie zu einem Teller Suppe einluden. Und die Mörder wussten nicht, dass das Mädchen selbst eine Jüdin war, sie und ihre Schwestern und ihre Mutter.

PS: Ich wollte eigentlich einige Vorhaben fürs neue Jahr formulieren, aber der Anblick der Steine faszinierte mich zu sehr. Und jetzt bin ich hungrig, werde schnell bisschen Hühnerfleisch braten, dann im Zentrum spazieren, dann Freunde vom Deutschen Sprachclub treffen. Und abends „Marx gegen Moskau“ bis zum Ende lesen – interessant die Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und dem 21. – Marx beschreibt die „Feigheit, Zaghaftigkeit und Halbherzigkeit“ der westlichen Regierungen, „das System der halbherzigen Maßnahmen und nutzlosen Verhandlungen“, insbesondere der englischen Politik.
„Obgleich es für Marx auf der Hand lag, dass es darum gehen müsste, die Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld zu drehen, ertönte an allen Orten merkwürdigerweise der Ruf nach ‚Verhandlungen’“.
„Aufstieg Russlands bedeutete Niedergang aller anderen Fürstentümer und Republiken, das Endes des ukrainischen Hetmanats und die Zerschlagung Polens. Es ist Einigung durch Eroberung, Vereinigung durch Unterwerfung, Anpassung an die Bedürfnisse des Zentrums (Moskau), Herrschaft ohne Vertragsabschluß. Die von Moskau Beherrschten sind keine politischen Rechte genießenden Bürger, sondern zur Treue verpflichtete Untertanen. … Russland schafft keine politischen Einheiten, sofern vernichtet sie; es lässt keine freie Presse zu, sondern die Zensur walten; die physische Gewalt herrscht nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel. Es hat eine eigene, rein reaktionäre Mission: mittels der zu brechenden Macht des Westens (und damit auch des Proletariats) das wahre Kaiserreich auf Erden zu errichten und die Welt von Moskau aus zu beherrschen.“

aus Timm Graßmann, „Marx gegen Moskau, Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse“

Themen: Russland - Ukraine

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