Stiller Morgen
Poltawa, 31. Januar 25
Wie jeden Tag ist die Wohnung überheizt, die Heizungen lassen sich nicht regulieren. Ich muss das Fenster öffnen, um eine erträgliche, zum Denken geeignete Temperatur zu ermöglichen. Für einen Monat Wärme habe ich gestern 1270 Griwna, umgerechnet 28 Euro bezahlt. Auf die Garagenwand gegenüber hat jemand ein Graffiti gesprüht: „Frauen zu lieben ist kein Grund zu weinen.“ –
Im Green Deal Ukraine – EU 2021 war auch das klimaneutrale Wohnen als Ziel definiert worden, nicht bloß klimaneutrales Produzieren, Verkehr und Reisen. Die Transformationsprogramme waren verblüffend kühn. Die Ukraine führte laut KyivPost und der Europäisch-ukrainischen Energeiagentur EUEA die Liste der Länder mit der ineffektivsten und teuersten thermischen Stromerzeugung an. Und sie hatte wohl die energieintensivste Volkswirtschaft der Welt – und sollte innerhalb von 30 beste europäische Standards erreichen. Es fehlten bspw. Müllverarbeitungs- und Biogasanlagen – und eine bekannte deutsche Firma eröffnete in diesem Jahr lt. meinen Recherchen elf solcher Anlagen, und zwar ausschließlich in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Gemeinden, zum beiderseitigen Vorteil – „Der Investor will sich weder mit dem Staat noch mit der Wirtschaft befassen. Die Partner sind lokale Gemeinschaften.“
Selbst in der deutschen Presse erschienen einige gehaltvolle Berichte über die enormen Perspektiven einer umfassenden Modernisierung der Ukraine und ihrer Integration in EU-Strukturen, durchaus auch in martialischen Tönen.
Die Welt: „Die Ukraine in der Energieschlacht gegen Russland zum Sieger machen. (!) Bisher wurde dieser Kampf ums Erdgas ausgetragen. Aber die Klimaziele Europas und Deutschlands haben zu neuen Perspektiven geführt. Erdgas wird in den nächsten Jahren an Bedeutung verlieren. An seine Stelle, hofft man in Kiew, wird Wasserstoff treten – und die Ukraine zu Deutschlands engem Energie-Verbündetem machen.“
Das hat man in Moskau natürlich überhaupt nicht gern gelesen. Solche Vereinbarungen werden dort unter dem Vorwurf verbucht, „der Westen hat uns immer betrogen“ – er will uns aus den Märkten drängen, uns schaden und enteignen, ökonomisch zerstören. Die putler-Schallplatte spielt dieses Märchen vom Betrug ja regelmäßig vor. –
Gestern hatte ich zwei wichtige Gespräche mit Ernst und Tanktist Vitja. Ernst kam aus der Schweiz, um eines unserer gespendeten Autos nach Charkiw zu bringen. Wenn ich nicht als Freiwilliger arbeiten würde, würden mir wichtige Einblicke in ukrainische Wirklichkeiten fehlen, das merke ich immer wieder. Über manche Erkenntnisse werde ich frühestens nach dem Sieg sprechen, manche erträgt man nur mit Galgenhumor. Bspw. die Art und Weise, wie bürokratische Zwänge und Gewohnheiten sogar die Versorgung des Militärs behindern, also sogar Menschenleben gefährden.
Mit Vitja ist jedes Treffen ein Fest, auch weil er die Frontkämpfe und seine Verwundungen überlebt hat. Gestern haben wir nicht Schach gespielt, aber grusinischen Kognak getrunken und über ukrainische Geschichte diskutiert. Ich konnte etwas Neues lernen über die vor-sowjetische Geschichte des Passwesens und der Kirchendokumente, v.a. im Hinblick auf die Angaben zur Nationalität. Und ich konnte Vitja hoffentlich einige Illusionen über den derzeitigen Zustand der Politik in Deutschland nehmen. (Deutschland als Parodie seiner selbst, das wäre als Theaterstück amüsant und lehrreich. Aber als Wirklichkeit gefährlich selbstverblendet, trottelig und trantütig. Man feiert den Sieg der Schrebergarten-Mentalität.)
1st.Februar 2025 um 22:31
[…] Angriffskrieges tätig. Wer Innenansichten sucht, wird dort fündig. Denn auch an einem Stillen Morgen gibt es sehr Interessantes – etwa über die Energiegewinnung in der […]