Stimmung als politische Kategorie

Über die Sendung „Politik und Medien und die Stimmung im Land“ im ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann:
Seit drei Jahren kritisiere ich / spotte ich darüber, dass die beliebteste Kategorie in der deutschen Kriegsberichterstattung DIE STIMMUNG ist. Kaum eine Reportage oder ein Interview ohne die Frage nach der Stimmung im Krieg, der Stimmung nach Raketenangriffen, im Angesicht der Gefahr der drohenden Ermordung.
Anfangs versuchte ich in Interviews noch ernsthaft zu antworten: Stimmungen wechseln doch in jedem Menschen mehrmals am Tag; Stimmungen sind wie alle Emotionen in sich widersprüchlich, zumal beim Zusammensein von mehreren oder vielen Menschen. Wie kann sich ein einzelner Reporter anmaßen, das Gefühlsleben von Millionen von Menschen zu beurteilen und auf den Begriff zu bringen? Zumal wenn es sich um einen ausländischen Reporter handelt, der nur ein paar Tage im Land ist und also höchstens ein paar Dutzend Menschen die geschmacklose Frage nach ihrer Stimmung gestellt haben kann.
Wenn ich in Poltawa in der Kneipe erzählte, dass ich in Radio-Interviews immer wieder nach der Stimmung gefragt werde, fassten sich die Leute an den Kopf, nicht selten wurden Mutterflüche abgesondert. Zusammengefasst lautete das Fazit meistens: Unsere Stimmung ist ausgezeichnet, es herrscht Bombenstimmung.
In meinem Tagebuch schrieb ich im Frühjahr 2022, „wenn ich noch einmal nach der Stimmung gefragt werde, bekomme ich entweder einen Lachkrampf oder einen Weinkrampf“.

Weshalb ist diese Kategorie im deutschen Journalismus so beliebt? Wohl weil sie so diffus ist und sich mit ihr alles Mögliche behaupten lässt. Weil sie Aufmerksamkeit weckt und sich mit ihr Menschen (Medienkonsumenten) leicht „angeln“ / manipulieren lassen. Sie täuscht Substanz vor, täuscht vor etwas Wesentliches auszusagen, und ist doch nur eine Seifenblase, die beim leisesten Windhauch / vorsichtiger Überprüfung zerplatzt.
Die Geschmacklosigkeit und Übergriffigkeit der Frage nach der Stimmung kann bei Medienkonsumenten gar den Eindruck der Empathie erwecken – man interessiert sich ja nur dafür, wie es den Menschen geht. Aber es ist ein Begriff, der den Blick auf die Wirklichkeit verkleistert; das angebliche Wissen über die Gefühle der Menschen wird nur vorgetäuscht.

Wie leicht Menschen mit dem Begriff der Stimmung im Wahlkampf zur Bundestagswahl getäuscht / aufgehetzt / manipuliert wurden, zeigt nun Jan Böhmermann im ZDF Magazin Royale. Sehr lehrreich! Die Kategorie der Stimmung (im gehobenen Journalisten-Jargon: „gesellschaftliche Grundstimmung“) und ihre missbräuchliche Verwendung ist eben immens politisch.
Die Sendung endet mit dem „einem überraschend aktuellen Protestlied aus dem Jahre 1973, aus einem Konzert des westdeutschen Liedermachers Bierwolf Böhmermann“ – Wie ist die Stimmung im Land: Eilig lobt der Milliardär all die ersten Geigen, die gekauften Redakteure, die wortreich jeden Mord beschweigen, sie können mit dem Teufel sprechen, und stritten aber ausgewogen, bis sie sich das Rückgrat brechen …

Themen: Politik und Gesellschaft

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