Das Herz u.a.
Poltawa, 20.04.2025
Beleidigende und kostbare Erfahrung: Ich bin nicht unsterblich. Gevatter Tod hat mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht geblasen. Die Pumpe pumpte nicht so wie sie es immer getan hatte. Krankenhäuser kannte ich bisher nur als Besucher – nur für das Herausreißen der Mandeln im Alter von acht Jahren hatte man mich dort mal interniert. Nun der Schock: Mein Herz ist doch nur so schwach wie ein Spielzeughämmerchen. Lange schon vorbei die Zeit, da ich 340 Kilometer in einer 24-Stunden-Etappe mit Gepäck auf dem Fahrrad radeln konnte.
Ausgerechnet am Karfreitag wurde ich aus dem Krankenhaus „in die Freiheit“ entlassen. Der erste bekannte Mensch, den ich zufällig auf dem Basar traf, war Freund Vitja „Tankist“. Er musste ins Krankenhaus (!), um dort ein ärztliches Attest abzugeben. Seine Rehabilitation nach seiner Verwundung an der Donbas-Front ist immer noch nicht abgeschlossen. Nach diesem Termin hatte er freie Zeit, und wir verabredeten uns bei mir zu Hause.
Vitja ist in seiner gesamten Erscheinung, in all seinen Eigenschaften und Verhaltensweisen, ziemlich genau das Gegenteil eines „Kriegers“, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt – stets freundlich, nie aufbrausend oder fluchend, nie grob vereinfachend. Auf primitive Meinungen anderer antwortet er wie ein geschulter Psychologe, indem er die dumme Äußerung freundlich wiederholt und dann auf die Vielzahl der Möglichkeiten verweist, die man außerdem noch prüfen oder erörtern könnte.
Nun, wir tranken etwas Piraten-Rum und redeten vor allem darüber, was für ein seltsamer, teils chaotischer Organismus das ukrainische Militär derzeit ist und sein muss. Viele Menschen haben ja ideale Vorstellungen vom „großen Ganzen“ und suchen Schuldige für das Versagen des Systems, eine Garantie für unstillbare Unzufriedenheit. Vitja ist viel zu weise und erfahren dafür, sein Sinn für Komik ist dafür viel zu stark ausgebildet. Ich glaube, er genießt es auch als Absurdität, dass er die gefährlichen Kämpfe überlebt hat, denn ein paar Mal war das „sehr knapp“ gewesen.
Wir spazierten dann ins Zentrum und trafen Artjom, der einen kurzen Urlaub bekommen hatte. Er ist zwar in Frontnähe stationiert, aber dort erfüllt er technische Aufgaben, wie es seinen Begabungen entspricht. Geschossen hat er bisher nur auf Trainingsplätzen.
Während die beiden Freunde übers Militärische fachsimpelten, probierte ich schon Formulierungen aus für das Radio-Gespräch bei Bremen 2 am nächsten Tag. Das lief tatsächlich ganz gut, und es war mir ein Vergnügen, in der Live-Sendung die Verhandlungen mit den ruzzländischen Staatsterroristen als „absurdes westliches Theater“ zu verspotten. Der Redakteur war auch sehr angetan und hätte gern länger mit mir geplaudert, versicherte er mehrmals ziemlich glaubwürdig.
Leider ist der Krieg für mich ja kaum noch eine intellektuelle Herausforderung, so zynisch es klingen mag, dass er eine sein sollte. Ich wundere mich zwar oft darüber, dass im Westen nach wie vor das Wesen des Putinismus als viel zu lieblich und human definiert wird und dass diese närrischen Selbstgespräche über Hoffnungen auf Frieden so populär sind, aber die Gründe dafür zu begreifen ist ja eigentlich auch nicht schwer.
Gestern Abend war ich noch im Kulturzentrum, wo Sascha seinen Geburtstag feierte, u.a. mit einem Vortrag über die britische «Post-Punk- und Synthie-Pop-Band“ Japan, von der ich natürlich noch nie etwas gehört hatte. Diese Abende dort sind eigentlich immer inspirierend und (ent-)spannend. Jeder Mensch trägt ein Universum in sich, das spüre ich dort immer wieder (oh je, bisschen verkitscht gesagt).
PS. Faszinierend, wie gut die Behandlungen im Krankenhaus waren. Ich kann aber öffentlich nicht darüber berichten, sonst, so meinte Vitja, würde ich den „Medizintourismus aus Deutschland“ fördern.
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