„Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“

Poltawa, 21.04.2025
Gestern langes Gespräch mit Lena, deren Gatte Pascha seit neun Monaten vermisst wird. Sie wirkt deutlich gefestigter als bei unseren vorigen Treffen. Die beiden hatten eine solch symbiotische Form der Liebe, dass man sie dazu nur beglückwünschen konnte. Sie küssten sich leidenschaftlich, und sie stritten leidenschaftlich, und manchmal knurrten sie sich nur an; aber es war offensichtlich, dass sie nicht ohne einander sein konnten.
Nachdem Pascha von einem Kampfeinsatz in heute besetzten Gebieten nicht zurückgekehrt war, brauchte Lena Zeugen, die ihre Liebe notariell bestätigten, da sie nicht standesamtlich verheiratet gewesen waren, um die Witwenrente oder irgendwelche „Entschädigungszahlungen“ zu erhalten. Sie gab auch mich als Zeugen an, und ich bezeugte natürlich die Wahrheit.

Ob Pascha noch lebt? In unseren Herzen ganz sicher, denn solch einen einzigartig leidenschaftlichen Menschen kann und möchte man nicht vergessen. Obwohl wir beide uns „vom Sehen“ schon seit dem Jahre 2007 kannten, seit meiner ersten Radreise nach Poltawa, freundeten wir uns erst während des Krieges an, nach der Aufhebung des Alkoholverbots im Frühjahr 2022. Bis dahin hatte ich es vermieden, in den „Kern“ der philosophischen Gesellschaft im Biergarten einzudringen, denn ich ahnte: Diese Stammgäste könnten mich mit ihrer Liebe, Aufmerksamkeit und Neugierde erdrücken. Und ich fürchtete, mich vom romantischen zum Gewohnheitstrinker zurückzuentwickeln. In den ersten Kriegsmonaten war mir das dann aber völlig egal. Da man sowieso jeden Moment ermordet werden konnte, konnte man auch bis zum letzten Moment fröhlich sein. Und im Krieg sind Gemeinschaften ja ungeheuer wichtig; es tut gut, einander zu helfen; Selbstlosigkeit erhöht die Lebenschancen; Einsamkeit dagegen ist ein schreckliches Gift.
So lernte ich dann in Paschas Biergarten viele mir inzwischen sehr wichtige Menschen kennen und lieben.

Im Krankenhaus erzählte mir eine Putzfrau, dass sie im Donbas eine Zeitlang unter ruzzländischer Besatzung gelebt habe. Sie habe einen Besatzer wütend gefragt, was die hier wollten. Der ruzze habe geantwortet: „Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“
Eine Begründung für die Invasion, die man ja schon oft gehört hat. Dem sklavischen Bewusstsein muss jemand eine Erlaubnis dafür erteilen, gut zu leben. Der Vergleich „besser / besser als wir“ ist aber gar nicht so sinnlos, wie er sich anhört. Tatsächlich haben mutige Ukrainer immer wieder, wie auf dem Maidan, unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, nicht so leben zu müssen wie die ruzzländischen Geschöpfe – nicht rechtlos vor Gericht, nicht hilflos gegenüber räuberischen Polizisten, sondern als freie Individuen. „Wer hat euch erlaubt, frei zu sein?“, das bedeutet die Frage des Besatzers ebenfalls.

Luftalarm.

Themen: Russland - Ukraine

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