Politik und Gesellschaft
Krieg als nihilistisches Gesamtkunstwerk – warum sich Putins Russland und der Westen ewig fremd bleiben
Heute ist mein Gastkommentar in der NZZ erschienen:
Die Lernbereitschaft im Westen in Sachen Ukraine tendiert nach wie vor gegen null, gemessen an den notwendigen Einsichten. William Shakespeare hat solch ein Verhalten in «Hamlet» beschrieben: Zögern führt zu zahlreichen Todesfällen und zur Eskalation der Ereignisse.
Ich habe die antagonistischen Gegensätze zwischen ruzzland und dem Westen herausgearbeitet.
„Im Westen möchte man Terroristen und Serienmörder gern therapieren und gesundbeten, mit ihnen verhandeln, sie von der eigenen Friedfertigkeit überzeugen. In Russlands staatlicher Leitkultur neigt man dazu, die Schwächeren und die Reicheren zu demütigen. Der Herrscher im Kreml schwelgt öffentlich in Vergewaltigungsphantasien, wobei das Opfer ein harmloses Nachbarland ist. Im Westen versucht man, Kriegsverbrecher zu bestrafen, in Russland werden sie belohnt und ausgezeichnet, sie gelten als Helden.
Die Europäer wollen bald auf dem ersten klimaneutralen Kontinent leben und dafür auf fossile Brennstoffe verzichten; Russland will seine Existenzgrundlage nicht aufgeben, den Export fossiler Brennstoffe.“
https://www.nzz.ch/meinung/krieg-als-nihilistisches-gesamtkunstwerk-warum-sich-putins-russland-und-der-westen-ewig-fremd-bleiben-ld.1899459?mktcid=smsh&mktcval=E-mail
Russland - Ukraine
Für die Russen ist die Ukraine eine Waschmaschine – für Geld
Hier mein neuer Artikel bei N-TV: Wirtschaftliche Interessen
Von Christoph Brumme, Poltawa
Russland hat die Ukraine lange als Geldwaschmaschine für kriminelles und geheimdienstliches Kapital genutzt. Mit der Annäherung des Landes an die Europäische Union wurde dieses Vorgehen schwieriger. Auch das ist ein Grund für den Überfall.
https://www.n-tv.de/politik/Fuer-die-Russen-ist-die-Ukraine-eine-Waschmaschine-fuer-Geld-article26026926.html
Literatur
Prosa, „Zeit der Pfiffe“ (Leseprobe, Kindheit im Sozialismus, 1976, DDR, Harz, deutsch-deutsches Grenzgebiet)
1. Kapitel Die Mitglieder meiner Familie mussten arbeiten oder sich in der Schule quälen lassen, aber ich konnte im Bett liegen und meine Grippe ausschwitzen. Niemand durfte mein Zimmer ohne meine Genehmigung betreten. Das Gerede der Mitglieder meiner Familie nervte mich meistens sowieso. Entweder sie redeten über Ordnung und Sauberkeit oder über den Mangel. Lange Zeit glaubte ich, der Mangel hätte etwas mit Wäsche mangeln zu tun. Meine komische Mutter fuhr unsere Wäsche alle zwei Wochen zum Mangeln. Und der Alte erzählte oft, „der Mangel wird immer schlimmer,“ „es mangelt an allem“ „die kriegen den Mangel nie in den Griff“. Die, das waren die da oben, die uns regierten. Die kriegten nichts in den Griff, aber vor allem den Mangel nicht. Aber warum sollte die Regierung, die wir nie gesehen hatten, unsere Wäsche mangeln? Warum mangelte es an fast allem, obwohl die Wäsche weiterhin gemangelt wurde?
Inzwischen verstand ich natürlich den Unterschied zwischen dem Mangeln der Wäsche und dem Mangel im Allgemeinen, der überall herrschte. Über diesen Mangel hatte ich in der Schule einen Aufsatz geschrieben, als wir ein Thema ausnahmsweise man selber wählen durften.
„Der Mangel besteht, wenn die Regierung glaubt, dass sie alles wissen und bestimmen kann. Die Regierung bildet sich ein, sie kenne sogar die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen vom nächsten Jahr. Sie schreibt einen verbindlichen Plan, was getan werden muss, um diese Wünsche zu erfüllen. Und so muss dann im ganzen Land gearbeitet werden, alle auf Kommando, sowohl in der Stecknadel- als auch in der Schokoladenfabrik. Nächstes Jahr wollen zehntausend Paare heiraten, die kaufen voraussichtlich achttausend Hochzeitskleider. Manche nähen sich selbst welche oder tragen nur schmucke Kleider, die sie später auch für andere Feiern verwenden können. Wenn aber doppelt so viele Paare sich verlieben und schnell heiraten wollen, etwa, um eine Wohnung zugewiesen zu bekommen, dann herrscht wieder Mangel. Dann heißt es wieder, es mangelt an allem, sogar an Hochzeitskleidern, der Staat kriegt nichts in den Griff.
Aber nicht alle Menschen wollen ihre Wünsche der Regierung verraten. Viele kennen ihre Wünsche vom nächsten Jahr noch gar nicht. Jemand möchte beispielsweise ein neues Hobby ausüben, zum Beispiel das Angeln, weil er im Urlaub jemanden angeln gesehen hatte. Beim Angeln steht wenigstens seine zu Hause ständig kreischende Frau nicht hinter ihm. Er will eine Angelrute, Angelsehnen und Angelsehnenrollen kaufen, aber das konnte er nicht, weil die Regierung nicht geplant hatte, dass er angeln möchte. Kurz gesagt, sogar, wenn die Regierung die besten Absichten hatte, konnte sie nicht alles wissen, und schon gar nicht über die Zukunft.“
Danach musste ich in der Schule wieder mal beim Direktor antanzen. Ich bilde mir wohl ein schlauer zu sein als die Regierung, brüllte der Direktor. Dabei hätte ich wohl übersehen, dass nicht die Regierung das wichtigste Machtorgan im Lande ist, sondern die Partei, und die Partei hat immer recht, weil sie eine Million Mitglieder hat, die alle frei und offen ihre Bedürfnisse anmelden können. Außerdem vermutete der Direktor, ich wolle den Kapitalismus bei uns einführen, wo jeder das produzieren kann, was er will.
Ich antwortete dem Direktor nicht, mit keiner einzigen Silbe. Ich bildete mir einfach ein, ein Buddha zu sein oder eine Figur von der Osterinsel. Wenn man Schreihälse nur anlächelte, dann konnten die platzen vor Wut. Der Direktor bekam sogar ein gelbes Gesicht vom Schreien. Da kündigte sich vielleicht schon der Herzinfarkt an, der ihn bald darauf dahinraffen sollte. Geschieht ihm recht, warum war er so oft besoffen. Uns hielt er Moralpredigten, aber er hatte ständig eine Fahne vor sich her getragen, eine Fahne zum Anzünden, dann hätte er Feuer gespien, wie mein Kater Jack. Aber Jack war kein Alkoholiker und hielt auch keine dummen sozialistischen Predigten. „Du wirst mal in der Gosse landen!“, schrie der Direktor mich an. „Du bildest dir wohl ein, klüger zu sein als alle anderen?“
Man sah ihm an, dass er eine Zigarette rauchen wollte, so zitterten seine Hände. Er rauchte in jeder Pause ein paar Zigaretten, zusammen mit dem Staatsbürgerkundelehrer. Die Hundertprozentigen lebten am Ungesündesten.
An dem Worte Staatsbürgerkunde gefiel mir nur das Worte Kunde. Ich wäre gern ein Kunde gewesen, der sich hätte aussuchen können, was er lernen wollte. Stattdessen musste ich mir das Gesülze des Stabü-Lehrers anhören. „Bei uns gibt es keine Ausbeutung“, behauptete der. Aber das war ja lächerlich. Soldaten wurden ausgebeutet. Ich sah sie oft über unsere Wiesen robben und fluchen, dabei wollten sie am liebsten nach Hause, wie sie am Tag ihrer Entlassung grölten, wenn sie durch unser Dorf gefahren wurden. Ordentlich bezahlt wurden sie für die Zwangsarbeiten auch nicht, die sie an der Grenze leisten mussten, für das Verlegen von Betonplatten, das Aufstellen von Stacheldrahtzäunen mit Signaldraht. Und Schmerzensgeld bekamen sie auch nicht, dafür, dass man sie anbrüllen durfte und ihnen sinnlose Befehle erteilen durfte. Befehl ist Befehl, sonst ab ins Strafbataillon, zack, zack, nach Schwedt, Baumstämme schleppen, durch Matsch und Schlamm. Und die gesamte Zeit mussten sie nachdienen, die sie da verbrachten. Aber an die Grenze wurden sie dann nicht mehr versetzt. In Schwedt war es bestimmt mindestens so schlimm wie im französischen Bagno, wie von Victor Hugo beschrieben, wo die Sträflinge ausgepeitscht wurden.
Und nicht nur Soldaten, auch ich wurde ausgebeutet! Bei zehn Grad Frost im Freien Beton mischen zu müssen und in Eimern im Laufschritt tragen zu müssen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, was war das denn sonst als Ausbeutung? Oder in der Sommerhitze Teer über den Feuer kochen, dann heiß auf eine Wand auftragen? Der Staat hatte mich nicht zu dieser Arbeit verurteilt, aber mein Erzeuger, und den kontrollierte niemand, jedenfalls nicht Zuhause. Aber der Staat hatte ihm den Titel Sozialistischer Pädagoge verliehen.
Und meine Tante Hannah musste sich selbst ausbeuten. Obwohl sie so sogar nachts und an Wochenenden arbeitete, reichte ihr Geld hinten und vorne nicht. Und Kränze flechten war harte Arbeit, bei der die Hände oft bluteten, weil die Drähte so scharf waren.
Nur meine komische Mutter fühlte sich nicht ausgebeutet. Sie arbeitete für die Gewerkschaft und hatte Privilegien. Manche Urlauber brachten ihr Geschenke mit, damit sie besonders schöne Zimmer bekamen. Ein Paar aus Berlin schenkte ihr jedes Jahr ein schönes Portemonnaie, die man in unserem Kaff nicht kaufen konnte. Dafür werden wir mit Gurken besser versorgt als die Menschen in Berlin, darüber staunten die Urlauber-Freunde meiner Mutter. Man konnte bei uns Gurken gegen Kohlen tauschen, glaube ich. Oder umgekehrt. Alle tauschen irgendetwas, weil der Mangel überall herrschte.
In seiner letzten Stunde, die der Direktor vor seinem Tod bei uns unterrichtete, provozierte ich ihn mal wieder. Er warnte uns davor, zu versuchen über die Grenze abzuhauen, nicht mal in Gedanken sollten wir das wagen. Denn man liebt dort drüben nur den Verrat, nicht aber den Verräter, sagte er.
Da fragte ich ihn, wer denn der Löwe sei. Er guckte mich blöd an. Der Löwe von Äsop, half ich ihm. Doch der Trottel kannte diese Fabel offenbar gar nicht und wusste gar nicht, wo der Satz herstammte. Ich klärte ihn auf. Nachhilfeunterricht für den Direktor. Ein Esel und ein Fuchs leben freundschaftlich zusammen. Aber als ein Löwe kommt, da hetzt der Fuchs den Löwen auf, er soll den Esel fressen. Der Löwe frisst aber den Fuchs zuerst, weil er Verrat nicht leiden kann. Man liebt nur den Verrat, nicht aber den Verräter, das ist die Lehre der Geschichte. Also, wer sollte der Löwe sein, wenn jemand über die Grenze abhaute, wer würde ihn „drüben“ fressen? Der Kapitalismus? Aber der müsste ja dann alle Leute dort drüben fressen, nicht nur die Verräter. Aber wenn unser Onkel von drüben uns mit seiner Familie besuchte, dann sahen und hörten wir ja, dass sie dort viel besser lebten als wir. Sie hatten einen VW-Kleinbus und im nächsten Jahr einen Mercedes, wir hatten überhaupt kein Auto. Sie fuhren nach Italien in Urlaub, wir zu meiner Oma nach Werder an der Havel. Und sowieso, wenn man hier mit niemandem befreundet war, war man dann auch ein Verräter, wenn man über die Grenze abhaute? Man konnte doch nur Freunde verraten, nicht irgendwelche unbekannten Leute, mit denen man zufällig im gleichen Dorf lebte oder in der gleichen Familie?
Der Direktor brüllte mich nicht sofort an. Es geht ums Prinzip, sagte er, nicht um Äsop und seine Zeit. Äsop hätte nur ein Beispiel beschrieben. Ich ließ ihn gar nicht weiterreden, sondern wies ihn in ruhigem Ton darauf hin, dass laut Äsop nicht nur der Verräter gefressen wird, sondern auch der verratene Esel. Der Löwe sorgte für Gerechtigkeit, indem er den Verräter und den Unschuldigen tötete. Und das sollte auch für die heutige Zeit gelten?
Der Direktor brüllte daraufhin, ich solle endlich still sein. „Solche wie dich müsste man im KZ Buchenwald über den Appellplatz führen, dann wirst du sehen, dass du Blut an den Schuhen hast.“
Ich verstand zwar den Sinn dieses Satzes nicht vollständig, aber vielleicht hatte der Direktor schon zu wenig Sauerstoff im Gehirn gehabt und redete halb im Koma. Friede seiner Asche.
Über meinem Bett hingen meine selbst gemalten Flaggen, der Union Jack neben der Piratenfahne. Wenn ein Lehrer aus meiner Schule das gesehen hätte, dann wäre ich bestimmt in eine Sonderschule versetzt worden oder gleich an schlimmere Orte, wo den Kindern die Köpfe kahl geschoren werden und wo sie an Heizungsrohre gekettet werden, damit man sie in Ruhe verprügeln kann.
Russland - Ukraine
Nüchterne Selbstorganisation
Poltawa, 05.09.2025
Hätte mir jemand vor einigen Jahren prophezeit, dass ich heute als Auto-Ankäufer und Auto-Fahrer tätig sein werde – ich hätte nur mit dem Zeigefinger an meine Stirn getippt.
Aber so ist es. Wobei ich noch in der Ausbildung bin. Gestern zum Beispiel habe ich nicht erkannt, dass der Pickup, den wir in Lviv kaufen wollten, für die Brigade nicht geeignet ist – während es die Profis dort sofort sahen.
Inzwischen war aber ein geeigneter Pickup in der Schweiz schon verkauft worden, für den wir Interesse angemeldet hatten.
Das war der Stand heute morgen. Viel Arbeitszeit für nichts, viel Hin und Her zwischen mir und einer Ratgeberin, dem Verkäufer, einem Mechaniker, der NGO, der Brigade.
Ich wollte eigentlich einen neuen Rekord aufstellen und in weniger als drei Wochen der Brigade das gewünschte Auto übergeben, aber das ist nun nicht mehr zu schaffen.
Nun hat glücklicherweise die Brigade selbst in Polen einen Pickup gefunden wie wir ihn brauchen. Ich muss nur die Spendengelder überweisen und kann dann das Auto in Kyiv abholen und gen Donbas bringen. Alle Probleme haben sich in Wohlgefallen aufgelöst. Weil (fast) jeder mitdenkt, selbständig handelt, sich mit den anderen abstimmt. Klare nüchterne Selbstorganisation. Keine Vorwürfe, wenn jemand einen Fehler macht. Ein einziges Mal habe ich in den letzten Wochen mit einem Sergeanten geschimpft, weil er nicht klar genug gehandelt hatte. Wir hatten verabredet, dass ich das Auto gen Donbas bringe. Ich war schon fast dort, da wollte er, dass ich zurück nach Kyiv fahre und sie dort das Auto übernehmen.
Was mir gefällt an dieser Arbeit: Die Herausforderung, Probleme zu lösen. Die vielen überraschenden Wendungen. Und vor allem natürlich: die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Die Art und Weise der Zusammenarbeit. Einander helfen ohne Pathos.
Russland - Ukraine
Der schwarze Schwan ist ein Flamingo ?
Im Westen reden sie jetzt wieder vom „Game-Changer“. Vielleicht bin ich taub, aber dieses Wort oder seine Übersetzungen höre ich in der Ukraine in mündlichen Gesprächen eigentlich nie. Während man sich im Westen auf das Wort Change konzentriert und das Wort Game nicht in Anführungsstrichen schreibt und spricht, – weiß man in der Ukraine, dass der Krieg kein Spiel ist. Und dass eine einzelne Waffenart, außer Nuklearwaffen, etwas Grundsätzliches ändern kann, kann sich auch kaum jemand vorstellen – soweit mir bekannt.
Dennoch, der Flamingo könnte die Lage fundamental ändern. Dicht unter der Schwelle der nuklearen Wiederbewaffnung darf man diese Waffenart wohl einordnen, gemessen am Zerstörungspotential – wenn sie in den angekündigten Stückzahlen produziert werden kann, 200 pro Monat.
Selbst der generell skeptische Thorsten Heinrich klingt in seinen Einschätzungen euphorisch. Flamingos sollen 3000 km fliegen können, das heißt sie könnten die weitaus meisten kritischen Objekte in ruzzland erreichen. Die Flamingos könnten die gesamte ruzzländische Rüstungsproduktion zerstören / lähmen, auch die Eisenbahn. Die ruzzen können nur wenige wichtige Objekte versuchen zu schützen, das Land zu groß, sie haben nicht ausreichend Abwehrmöglichkeiten.
Der Flamingo „Marschflugkörper“ (was für ein Wort!) hat einen Splittergefechtskopf von bis zu 1150 kg. Was darf man sich als Laie (und potentielles Opfer) darunter vorstellen?
Bei Thorsten Heinrich erklärt ein User die Möglichkeiten:
@urischmitt5673:
„Beispiel: Nur mal angenommen sie basteln einen Flamingo mit Splitterkopf und zünden diesen 50 Meter über einem Tanklager. Mit dem Wirkmittel das hier verwendet werden kann würde ich schätzen das im Umkreis von ca. 500m alle Tanks Schweizer Käse sind. UMKREIS… bedeutet 500m rechts, links, vorne, hinten das ist schon ein ordentliches Gebiet.
Wie gesagt es muss bei einem Treibstofflager nicht groß BUMM machen. 1. Es ist wichtig in die Tanks löcher zu bekommen 2. Den auslaufenden Treibstoff zu entzünden Daher würde ich hier etwas Wirkmittel nehmen und mit ordentlich Splittermaterial ummanteln. Auslaufender Treibstoff und Feuer erledigen den Rest!!
Es kommt nicht immer darauf an möglichst viel Sprengstoff in das Ziel zu bringen, wichtiger ist es, die gewünschte Wirkung zu erreichen!!“
Russland - Ukraine
Denken als Beruf (4)
Poltawa, 31.08.2025 (derzeit kein Luftalarm)
Zum Thema Prognosen
Meine Erfolgsquote in der „Wahrsagerei“, also in prognostischen Vorhersagen, dürfte bei ca. 80 Prozent liegen im Fach „geschichtliche Ereignisse“.
Beispielsweise hatte ich 1989 die Erstürmung der Mauer in Berlin schon mindestens ein halbes Jahr zuvor logisch hergeleitet. Wofür es noch Zeugen gibt. Eine Freundin beispielsweise wollte einen Ausreiseantrag stellen, ich riet ihr ab, da wir unseren Wein bald sowieso in Westberlin trinken werden.
Diese Vorhersage war nicht schwer: Die Sowjetunion taumelte Richtung Abgrund, Gorbatschow hatte die Breshnev-Doktrin über die begrenzte Souveränität der osteuropäischen Staaten aufgeben müssen, der Sozialismus war glücklicherweise endgültig gescheitert, die „kommunistischen“ Parteien würden in allen Ländern von der Macht verjagt werden. Aber ob nun kapitalistisch oder sozialistisch, die Staaten würden ihre Staatlichkeit behalten, Polen würde Polen bleiben, Ungarn Ungarn. Aber die DDR konnte nicht als eigenständiger Staat existieren, es gab keine eigenständige Identität als DDR-Bürger, es waren Deutsche. Also passierte, was passieren musste, auch wenn die beteiligten Akteure das erst nach und nach begriffen.
Mein erstes Buch-Manuskript habe ich darüber geschrieben, im Sommer 1989, „Die Anatomie des Scheins oder Warum der Sozialismus nicht reformierbar ist“. Das bot ich dann im November dem Rowohlt Verlag in Hamburg an. Am 3. Januar 1990 bekam ich von dort die Antwort:
„Derzeit finden ja viele Versuche statt, den Sozialismus zu reformieren. Deshalb wollen wir ein Manuskript, das alle diese Versuche zum Scheitern verurteilt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt (!) nicht drucken“.
Ach, was habe ich gelacht.
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht“ – aber wenn das Scheitern erwiesen sein wird, dann leistet man gerne TRAUER-ARBEIT.
In diesem Krieg habe ich die Invasion korrekt vorausgesagt (es zahlte sich aus, dass ich mir jahrelange die Schrei-Sendungen im ruzzländischen Propaganda-Fernsehen angesehen hatte), außerdem den erfolgreichen Widerstand der Ukrainer, und nach der gewonnenen Schlacht bei Kyiv, dass „die ruzzen jahrelang massenhaft im Donbas verbluten werden“ (siehe mein veröffentlichtes Tagebuch und Interviews u.a. mit Radio Bremen und dem WDR).
Völlig falsch eingeschätzt habe ich die Stärke der Luftwaffe ruzzlands. Da habe ich mich blenden lassen von angeberischen Reden in Moskau, wo man den Eindruck erweckte, man könnte Dutzende ukrainische Städte innerhalb weniger Tage in Steinwüsten wie in Aleppo verwandeln.
Ebenso war mir nicht bekannt, in welch starkem Maße die ruzzen auf die Eisenbahnwege angewiesen sind. Ich hatte befürchtet, auf unser Poltawa beispielsweise könnten ganze Panzerarmeen vorstoßen, und zwar „querfeldein“.
Ebenso habe ich das Verhalten des Westens falsch eingeschätzt. Aber ich prognostiziere, dass man die „pazifistische Selbstverblendung“ noch bitter bereuen wird und dass man schlussendlich lernen wird sich gegen das faschistoide ruzzland sich mit Waffengewalt zu behaupten – schlichtweg, weil man überleben will, nicht wegen „westlicher Werte“, die ja eigentlich universelle sind.
Eine Prognose, von der ich nicht weiß, ob ich sie als Erfolg verbuchen kann oder nicht, stammt ebenfalls aus dem Jahr 1989, von meiner Geburtstagsfeier am 11. November, als 1,5 Tage nach dem Einsturz der Mauer: dass wir, wenn wir Rentner sind, wieder in Kellern sitzen und bei Bombenangriffen in ihnen Schutz suchen werden. Aber ich werde erst in vier Jahren Rentner, und ich suche jetzt schon in Kellern Schutz vor Bomben. Aber ich mache des quasi freiwillig. Zählt das oder zählt das nicht?
Russland - Ukraine
Denken als Beruf (3)
Poltawa, 31.08.2025 (kein Luftalarm)
Gestern redete ich längere Zeit mit meiner Kwas-Verkäuferin. Sie hat 40 Jahre lang als Kinderärztin gearbeitet und erhält eine Rente von 2700 Griwna (56 Euro). Zum Weinen. Ihre Tochter lebt und arbeitet als Sprachlehrerin seit einigen Jahren in Schweden. Sie will ihre Mutter nach Schweden holen, doch diese zögert, weil sie kein Schwedisch kann und hier in Poltawa ihre Freundinnen leben.
Die Arbeit als Kwas-Verkäuferin ist hart – je heißer es ist, desto mehr muss sie arbeiten. Sie sitzt da ungeschützt vor ihren Fässern, in der prallen Sonne und bei scharfem Wind, führt immer wieder die gleichen Bewegungen aus. Eine Prämie bekommt sie nicht, wenn sie viel verkauft, auch keine Gewinnbeteiligung. Natürlich ist sie auch nicht krankenversichert.
Harter Schnitt:
Unerlässlich für die Analyse solch unendlich komplexer Materie wie einer menschlichen Gesellschaft ist das sogenannte interdisziplinäre Denken. Es wird oft gefordert, aber selten praktiziert. Wie fatal sich das auswirkt, das zeigt auch dieser Krieg.
Beispiel: Unter Hunderten Osteuropawissenschaftlern, Slawisten. Militäranalytikern findet man höchstens ein Dutzend mit volkswirtschaftlichen und makro-ökonomischen Kompetenzen UND praktischen Erfahrungen in Industrie und Landwirtschaft, ob als Berater oder Forscher. (Rühmliche Ausnahmen: Anna Veronika Wendland und Andreas Umland)
Jahrelang haben sich ausländische Reporter in der Ukraine-Berichterstattung am sogenannten „Sprachenkonflikt“ abgearbeitet, fast hätte ich geschrieben: aufgegeilt. Für Ukrainer stand dieser „Konflikt“ unter den 30 wichtigsten Lebensprobleme an 29. Stelle (an 30. der Feminismus).
Die Damen und Herren Ausländer surften und planschten gerne, aber mit solider Ausrüstung in die Tiefe zu tauchen, dafür waren sie zu faul oder zu ängstlich.
Die wichtigsten Lebensprobleme waren ökonomische und soziale, und zwar in allen Regionen. Die niedrigen Einkommen und Renten, die Gefahr krank zu werden und Medikamente nicht kaufen zu können, die Schwierigkeit normal bezahlte Arbeit zu finden, die kaputten Straßen (dadurch hohe Reparaturkosten für Autos und Verzögerung von Krankentransporten).
Aber Ökonomie ist nicht sexy, und Armut schambesetzt. Also macht man aus dem kulturellen Schatz der Zweisprachigkeit einen angeblich existenzgefährdenden Konflikt. Um diesen Claim auszubeuten genügt angelesenes Halbwissen.
Ökonomische Kompetenz, das bedeutet im Falle der Ukraine und des bösen Nachbarn aus dem Norden auch: die Schattenwirtschaften zu studieren, die Transformationen des kriminellen Kapitals, die Geldwäsche-Rituale, die doppelten Buchführungen und insbesondere auch die Voraussetzungen für „Korruption“ – ein Phänomen, das meines Wissens NOCH NIE substantiell dargestellt wurde, sondern entweder im (berechtigten) Gestus der Empörung, also moralisch, oder juristisch, unter Aspekten der Gewaltenteilung und der Kontrolle, aber eben nicht ökonomisch. Man sieht auf die Spitzen der Pyramiden, aber nicht auf die Fundamente.
Literatur
Denken als Beruf (2)
Poltawa, 30.08.2025
Wahrscheinlich der populärste Denkfehler: Am Entweder-Oder sich festzuklammern, wo nur ein Sowohl-als-Auch helfen könnte. Helfen im Sinne von: neue Perspektiven öffnen, sich „der Wahrheit“ und dem Wesen einer Sache nähern, sie vielleicht sogar in ihrer Gänze zu erfassen.
Dieser Fehler ist deshalb so populär, weil man im Alltag / in den allermeisten Entscheidungen (!) das Entweder-Oder benutzen muss, um zu überleben, zu essen, zu schlafen etc. Gut oder schlecht, heiß oder kalt, Liebe oder Hass, Feind oder Freund. Soll ich essen oder nicht, werde ich jetzt die vielbefahrene Straße überqueren oder erst, wenn die Ampel Grün zeigt? Der bekanntlich ziemlich dumpfe Verstand arbeitet wie ein Blindenhund.
Der Verstand / das Entweder-Oder-Denken genügt aber nicht, um unendlich komplexe Materie wie etwa eine Gesellschaft / einen Krieg analytisch durchdringen zu können. Den meisten Menschen ist das vermutlich nicht ständig bewusst, vielleicht gar nicht bekannt. Sie nutzen ihre Denkerfahrungen aus dem Alltag / ihrem sinnlich wahrnehmbaren Leben, als ob sie, nur bewaffnet mit einem Tomatenmesser, gegen ein wütendes Nashorn kämpfen wollten.
Dabei riet doch schon Franz Kafka: Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Letzteren. Übersetzt: Urteile unabhängig von deinen Interessen und Wünschen, benutze deinen Verstand, als ob es nicht dein eigener wäre. Beobachte dich beim Denken, beobachte, dass du dich beim Denken beobachtest, versuche zu beobachten, dass du, dich beobachtend, zu denken versuchst. (Wie Aleksander Wat in der Moskauer Lubjanka.)
Eine innovative Methode (KI: „systematisches Vorgehen, um neue Ideen zu entwickeln, Probleme zu lösen und neue, wertstiftende Lösungen zu finden, indem bestehende Ansätze überwunden oder neu kombiniert werden“) ist es beispielsweise, eben nicht nach Lösungen, sondern nach weiteren unauflösbaren Konflikten zu suchen / die Wunden – „offen wie ein Bergwerk obertags“ – aufzureißen, statt sie schließen zu wollen. Oder: Zuerst die schlechtesten Möglichkeiten prüfen, dann erst jene, die das „brillante Narrenspiel der Hoffnung“ anbietet.
Schein und Wirklichkeit – aus der Geschichte lernen, Irrtümer überprüfen:
Dass nichts so ist, wie es zu sein scheint, ist eine Banalität, die auch für das Sein gilt, wie für jedes Ding und jedes Subjekt. Säkulare Gesellschaften richten ihr Handeln jedoch nicht nach dem Sein aus, sondern nach der Wirklichkeit. Den Schein, der die Wirklichkeit umgibt und von dem sie durchtränkt ist, erkennen und fürchten säkulare Gesellschaften nicht, denn es gilt die Maxime der Machbarkeit, gar der Berechenbarkeit von Zukunft. Sie müssten die Perspektive des Teufels annehmen, um sich selbst in Beziehung zum Schein erkennen zu können; die Perspektive des transzendenten Bösen. Sie müssten sich selbst gleichgültig sein und ihren Niedergang ebenso stark lieben wie ihre Fortentwicklung. Die teuflische Perspektive widerstrebt jedoch dem Lebenstrieb, das Hohngelächter ist kein Schlaflied.
Eine gegensätzliche, theoretisch mögliche, transzendente Perspektive, die des Gottes oder der Götter, ist ebenso schwer zu handhaben, dank der Selbstverblendung säkularer Gesellschaften, die sich am Baum der Erkenntnis überfressen.
Literatur
Denken als Beruf (1)
Poltawa, 29.08.2025
Meine beste Quote war: pro Gedanke (Diagnose, Prognose, Konfliktbeschreibung) bekam ich 150 Schweizer Franken. In einem zehnminütigen Vortrag mit zehn Gedanken, die vor mir noch niemand gedacht hatte, soweit mir bekannt.
ziemlich billig, wenn man bedenkt, dass ich für jeden dieser Gedanken etwa drei Tage arbeiten muss – tatsächlich ARBEITEN. Denn der Gedanke muss so genau wie möglich formuliert und geprüft werden, wozu oft stundenlange Recherchen notwendig sind.
Einem meiner bestbezahlten Gedanken widersprach seine Exzellenz, der Botschafter der Ukraine. Doch wenige Monate später zeigte leider die Praxis, dass mein Gedanke sich bewahrheitete – die ruzzen begannen tatsächlich ihren heimtückischen Überfall auf die gesamte Ukraine.
Der Botschafter widersprach im Oktober 2021 dieser Möglichkeit, nachdem ein Geschäftsmann von mir wissen wollte, ob ich Investitionen in der Ukraine empfehlen könne.
„Westlich des Dnipro können Sie investieren, östlich des Dnipro besser nicht, weil das Risiko zu groß ist, dass in diesen Gebieten gekämpft werden wird.“
Nun, der Botschafter hätte vielleicht seinen Job verloren, wenn er meiner Einschätzung öffentlich zugestimmt hätte, schließlich gehörte es zu seinen Aufgaben, Investoren in die Ukraine „zu locken“. (Wie gut wurde dieser Mann und wurden ukrainische Diplomaten eigentlich mit nachrichtendienstlichen Informationen versorgt? Waren die Ukrainer auch so deppert wie die Deutschen und die meisten westlichen Dienste? Das wird in einigen Jahrzehnten ein ergiebiges Forschungsfeld sein.)
Russland - Ukraine
Jungs suchen Gefahren
B., Oblast Charkiw, 18.08.2025
Jungs, sage ich nur. Gestern sind wir in die 20er-Zone gefahren, weniger als 20 Kilometer von der Null-Linie entfernt. Dorthin, wo das Risiko sehr real ist, von todbringenden Vögelchen besucht zu werden. Warum sind wir dorthin gefahren? Um uns eine Sehenswürdigkeit anzusehen, einen Staudamm. Für eine Stunde spielten wir Touristen. Es war überhaupt nicht nötig, uns in Gefahr zu bringen. Die Kämpfer, die wir dorthin begleiteten, probierten dort unsere Tarnnetze aus. Wobei wir sowieso nicht helfen können und müssen.
Und was machen meine Jungs auf der Rückfahrt? Sie suchen die nächste Gefahrenzone auf und sammeln Trophäen ein. Siehe Foto. Die Hülsen und Raketenreste werden von Künstlerinnen bemalt und dann verkauft, um wieder Geld für das Material für die Netze zu bekommen.
Auf die „große“ Politik achte ich nur nebenbei. Dass eine Tragödie nicht als Farce enden kann, erklärt sich ja eigentlich von selbst.
Für den Generator habe ich bisher 580 Euro bekommen. Wir brauchen 912 Euro.
Und wir brauchen dringend einen weiteren Kleinbus, um die Arbeitsmöglichkeiten einer Einheit zu verbessern, die zum Teil aus Männern unserer Siedlung besteht. Sie waren daran beteiligt die kürzlich erfolgten Geländegewinne der ruzzen auf unserer Höhe zu „korrigieren“.
Bitte, liebe Leute da draußen, schaut nochmals in eure Portemonnaies oder auf eure Konten !!! Leider ist der Kampf für unsere Freiheit sehr teuer. Wir sind für jede Hilfe dankbar.
CHF: CH360026926980003440V, Inhaber: Oleksandr Volkov (oder einfach per Twint an +41794829258)
PayPal: https://www.paypal.com/paypalme/raxarov
Oder: EUR: DE95100500004114595657, Inhaber: Christoph Brumme
Betreff „Ukraine-Hilfe Poltawa“
Herzlichen Dank! #supportukraine