Aussichten
Kredit fuer alles verspricht der neue Kapitalismus auf dem alten Mosaik. Fluechtig ist die Botschaft, der man glauben soll. Man borgt von der Zukunft – ein unsicheres Geschaeft.
Tatsaechlich ist diese Art von Scheinheiligkeit schwerer zu durchschauen als die Propagandamaerchen im – Gott habe ihn selig – Staat gewordenen Sozialismus.
Wenn ich an die Ammenmaerchen denke, die mir in meiner Kindheit von den erwachsenen Autoritaeten in die Ohren gefluestert wurden, kommt mir einfach nur das Gruseln.
Der schlimmste Satz vielleicht: Wenn du mal erwachsen bist, wirst du keine Zeit mehr zum Lesen haben! Oder: Zum Spielen.
Schon als Kind habe ich an diese seltsame Botschaft nicht geglaubt. Ich bin ich, und ich werde so leben wie ich moechte, lautete damals schon meine stille Antwort. Ich werde nicht den Nacken beugen, wenn man das von mir verlangt. Ich behaupte nicht, das Richtige zu tun oder besser zu sein als andere (was interessiert mich der Vergleich, diese alteuropaeische Schwaeche?), aber ich werde nur ALS FREIER MENSCH LEBEN oder gar nicht. Unter einem Chef, einem Natshalnik, zu arbeiten, konnte ich mir nie vorstellen.
Wie richtig dieser starre Blick in die Zukunft war, begriff ich, als ein Verwandter, der spaeter seine Ehefrau erwuergte, mir den Ratschlag gab, Aktien zu kaufen. Ich lachte, und er fragte: Du stehst wohl ueber den Dingen? Ich antwortete: Nein, neben ihnen.
So auch jetzt, in diesem Moment, da ich diese Zeile notiere. Seit 3-4 Wochen habe ich Schmerzen im rechten Unterbauch. Die Selbstdiagnose besagt: Blinddarmreizung. Die Schmerzen sind in den letzten Tagen staerker geworden. Es koennte also durchaus die reale Gefahr bestehen, dass sich dieses ueberfluessige Ding entzuendet. Und Donnerstag will ich eigentlich nach Russland aufbrechen, acht Tage habe ich fuer die etwa 1000 Kilometer bis nach Saratow eingeplant.
Was tun? Zum Arzt gehen? Wozu? Alles liegt in Gottes Hand. Das Herz sagt: Die Sache verdraengen. Der Verstand: Die Schmerzen zumindest ueberpruefen lassen.
Mein Gastgeber raet mir, morgen zum Arzt zu gehen. Falls eine Operation noetig sei, diese jedoch nicht hier in Blisnjuki vornehmen zu lassen. Hier sei der Chirurg immer besoffen, nicht nur am Tag des Mediziners. Besser sei es, nach Charkow zu fahren, wo nach Meinung eines Luftbuergers keine Menschen leben. Am besten ins Eisenbahnerkrankenhaus, wo auch Julia Timoschenko sich behandeln laesst. Das haette doch immerhin einen symbolischen Wert, schliesslich habe ich den ehrenwerten Beruf eines Eisenbahners gelernt.
Ein ganz und gar nutzloses Wissen, das ich mir damals angeeignet habe. Zwar stehe ich manchmal auf Bahnhoefen und lese die dem Laien unverstaendlichen Zeichen auf Gueterwaggons (Wagennumer, Lastgrenzen, Laenge ueber Puffer, Eigengewicht und Bremsgewicht), doch das ist ja nichts anderes als Gehirntraining.
Lassen wir das. Ein anderer Blick in die Zukunft wird hier geprobt: „Seit Beginn der Krise setzt sie mehr und mehr auf die unerbittliche Ausbreitung der Logik des permanenten Notstands. Hat schon mal ein Kanzler so wiederholt und ausdauernd die Verfassung ignoriert wie Angela Merkel? Regeln, Verfahren, Prinzipien – alles zerbricht ihr im Krisen-Katarakt.“
Permanenter Notstand, herrlich, wie ich dieses Eingestaendnis liebe! Ich empfinde nichts als Glueck, wenn ich diese Zeilen lese. Zum zweiten Mal nach 1989 scheitert der Anspruch, menschliches Verhalten berechnen zu koennen. Und ich kann sagen: Ich bin dabei gewesen.
Anmerkung zum Komma: „Die Kommasetzung unterliegt bei künstlerischen Werken einer größeren Freiheit: In lyrischen Texten kann die Zeichensetzung völlig verschwinden, zur besonderen Betonung oder Gliederung verwendet werden oder aber auch selbst Teil eines Sprachspiels sein. Auch epische Texte weisen oftmals eine sehr eigenwillige Kommasetzung auf – als Beispiel sei auf Kleist verwiesen, der die Kommas nicht nach Regeln, sondern nach seinem Gutdünken setzte.“ Siehe Wikipedia.
Als Beispiel mag man auch auf Shakespeare verweisen, in dessen Folio-Ausgabe die Zeichen ganz fehlten.