Russland – Ukraine

Für die Russen ist die Ukraine eine Waschmaschine – für Geld

Hier mein neuer Artikel bei N-TV: Wirtschaftliche Interessen
Von Christoph Brumme, Poltawa
Russland hat die Ukraine lange als Geldwaschmaschine für kriminelles und geheimdienstliches Kapital genutzt. Mit der Annäherung des Landes an die Europäische Union wurde dieses Vorgehen schwieriger. Auch das ist ein Grund für den Überfall.

https://www.n-tv.de/politik/Fuer-die-Russen-ist-die-Ukraine-eine-Waschmaschine-fuer-Geld-article26026926.html

Nüchterne Selbstorganisation

Poltawa, 05.09.2025
Hätte mir jemand vor einigen Jahren prophezeit, dass ich heute als Auto-Ankäufer und Auto-Fahrer tätig sein werde – ich hätte nur mit dem Zeigefinger an meine Stirn getippt.
Aber so ist es. Wobei ich noch in der Ausbildung bin. Gestern zum Beispiel habe ich nicht erkannt, dass der Pickup, den wir in Lviv kaufen wollten, für die Brigade nicht geeignet ist – während es die Profis dort sofort sahen.
Inzwischen war aber ein geeigneter Pickup in der Schweiz schon verkauft worden, für den wir Interesse angemeldet hatten.
Das war der Stand heute morgen. Viel Arbeitszeit für nichts, viel Hin und Her zwischen mir und einer Ratgeberin, dem Verkäufer, einem Mechaniker, der NGO, der Brigade.
Ich wollte eigentlich einen neuen Rekord aufstellen und in weniger als drei Wochen der Brigade das gewünschte Auto übergeben, aber das ist nun nicht mehr zu schaffen.
Nun hat glücklicherweise die Brigade selbst in Polen einen Pickup gefunden wie wir ihn brauchen. Ich muss nur die Spendengelder überweisen und kann dann das Auto in Kyiv abholen und gen Donbas bringen. Alle Probleme haben sich in Wohlgefallen aufgelöst. Weil (fast) jeder mitdenkt, selbständig handelt, sich mit den anderen abstimmt. Klare nüchterne Selbstorganisation. Keine Vorwürfe, wenn jemand einen Fehler macht. Ein einziges Mal habe ich in den letzten Wochen mit einem Sergeanten geschimpft, weil er nicht klar genug gehandelt hatte. Wir hatten verabredet, dass ich das Auto gen Donbas bringe. Ich war schon fast dort, da wollte er, dass ich zurück nach Kyiv fahre und sie dort das Auto übernehmen.
Was mir gefällt an dieser Arbeit: Die Herausforderung, Probleme zu lösen. Die vielen überraschenden Wendungen. Und vor allem natürlich: die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Die Art und Weise der Zusammenarbeit. Einander helfen ohne Pathos.

Der schwarze Schwan ist ein Flamingo ?

Im Westen reden sie jetzt wieder vom „Game-Changer“. Vielleicht bin ich taub, aber dieses Wort oder seine Übersetzungen höre ich in der Ukraine in mündlichen Gesprächen eigentlich nie. Während man sich im Westen auf das Wort Change konzentriert und das Wort Game nicht in Anführungsstrichen schreibt und spricht, – weiß man in der Ukraine, dass der Krieg kein Spiel ist. Und dass eine einzelne Waffenart, außer Nuklearwaffen, etwas Grundsätzliches ändern kann, kann sich auch kaum jemand vorstellen – soweit mir bekannt.

Dennoch, der Flamingo könnte die Lage fundamental ändern. Dicht unter der Schwelle der nuklearen Wiederbewaffnung darf man diese Waffenart wohl einordnen, gemessen am Zerstörungspotential – wenn sie in den angekündigten Stückzahlen produziert werden kann, 200 pro Monat.
Selbst der generell skeptische Thorsten Heinrich klingt in seinen Einschätzungen euphorisch. Flamingos sollen 3000 km fliegen können, das heißt sie könnten die weitaus meisten kritischen Objekte in ruzzland erreichen. Die Flamingos könnten die gesamte ruzzländische Rüstungsproduktion zerstören / lähmen, auch die Eisenbahn. Die ruzzen können nur wenige wichtige Objekte versuchen zu schützen, das Land zu groß, sie haben nicht ausreichend Abwehrmöglichkeiten.
Der Flamingo „Marschflugkörper“ (was für ein Wort!) hat einen Splittergefechtskopf von bis zu 1150 kg. Was darf man sich als Laie (und potentielles Opfer) darunter vorstellen?

Bei Thorsten Heinrich erklärt ein User die Möglichkeiten:
@urischmitt5673:

„Beispiel: Nur mal angenommen sie basteln einen Flamingo mit Splitterkopf und zünden diesen 50 Meter über einem Tanklager. Mit dem Wirkmittel das hier verwendet werden kann würde ich schätzen das im Umkreis von ca. 500m alle Tanks Schweizer Käse sind. UMKREIS… bedeutet 500m rechts, links, vorne, hinten das ist schon ein ordentliches Gebiet.
Wie gesagt es muss bei einem Treibstofflager nicht groß BUMM machen. 1. Es ist wichtig in die Tanks löcher zu bekommen 2. Den auslaufenden Treibstoff zu entzünden Daher würde ich hier etwas Wirkmittel nehmen und mit ordentlich Splittermaterial ummanteln. Auslaufender Treibstoff und Feuer erledigen den Rest!!
Es kommt nicht immer darauf an möglichst viel Sprengstoff in das Ziel zu bringen, wichtiger ist es, die gewünschte Wirkung zu erreichen!!“

Denken als Beruf (4)

Poltawa, 31.08.2025 (derzeit kein Luftalarm)
Zum Thema Prognosen
Meine Erfolgsquote in der „Wahrsagerei“, also in prognostischen Vorhersagen, dürfte bei ca. 80 Prozent liegen im Fach „geschichtliche Ereignisse“.
Beispielsweise hatte ich 1989 die Erstürmung der Mauer in Berlin schon mindestens ein halbes Jahr zuvor logisch hergeleitet. Wofür es noch Zeugen gibt. Eine Freundin beispielsweise wollte einen Ausreiseantrag stellen, ich riet ihr ab, da wir unseren Wein bald sowieso in Westberlin trinken werden.
Diese Vorhersage war nicht schwer: Die Sowjetunion taumelte Richtung Abgrund, Gorbatschow hatte die Breshnev-Doktrin über die begrenzte Souveränität der osteuropäischen Staaten aufgeben müssen, der Sozialismus war glücklicherweise endgültig gescheitert, die „kommunistischen“ Parteien würden in allen Ländern von der Macht verjagt werden. Aber ob nun kapitalistisch oder sozialistisch, die Staaten würden ihre Staatlichkeit behalten, Polen würde Polen bleiben, Ungarn Ungarn. Aber die DDR konnte nicht als eigenständiger Staat existieren, es gab keine eigenständige Identität als DDR-Bürger, es waren Deutsche. Also passierte, was passieren musste, auch wenn die beteiligten Akteure das erst nach und nach begriffen.
Mein erstes Buch-Manuskript habe ich darüber geschrieben, im Sommer 1989, „Die Anatomie des Scheins oder Warum der Sozialismus nicht reformierbar ist“. Das bot ich dann im November dem Rowohlt Verlag in Hamburg an. Am 3. Januar 1990 bekam ich von dort die Antwort:
„Derzeit finden ja viele Versuche statt, den Sozialismus zu reformieren. Deshalb wollen wir ein Manuskript, das alle diese Versuche zum Scheitern verurteilt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt (!) nicht drucken“.
Ach, was habe ich gelacht.
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht“ – aber wenn das Scheitern erwiesen sein wird, dann leistet man gerne TRAUER-ARBEIT.

In diesem Krieg habe ich die Invasion korrekt vorausgesagt (es zahlte sich aus, dass ich mir jahrelange die Schrei-Sendungen im ruzzländischen Propaganda-Fernsehen angesehen hatte), außerdem den erfolgreichen Widerstand der Ukrainer, und nach der gewonnenen Schlacht bei Kyiv, dass „die ruzzen jahrelang massenhaft im Donbas verbluten werden“ (siehe mein veröffentlichtes Tagebuch und Interviews u.a. mit Radio Bremen und dem WDR).
Völlig falsch eingeschätzt habe ich die Stärke der Luftwaffe ruzzlands. Da habe ich mich blenden lassen von angeberischen Reden in Moskau, wo man den Eindruck erweckte, man könnte Dutzende ukrainische Städte innerhalb weniger Tage in Steinwüsten wie in Aleppo verwandeln.
Ebenso war mir nicht bekannt, in welch starkem Maße die ruzzen auf die Eisenbahnwege angewiesen sind. Ich hatte befürchtet, auf unser Poltawa beispielsweise könnten ganze Panzerarmeen vorstoßen, und zwar „querfeldein“.
Ebenso habe ich das Verhalten des Westens falsch eingeschätzt. Aber ich prognostiziere, dass man die „pazifistische Selbstverblendung“ noch bitter bereuen wird und dass man schlussendlich lernen wird sich gegen das faschistoide ruzzland sich mit Waffengewalt zu behaupten – schlichtweg, weil man überleben will, nicht wegen „westlicher Werte“, die ja eigentlich universelle sind.

Eine Prognose, von der ich nicht weiß, ob ich sie als Erfolg verbuchen kann oder nicht, stammt ebenfalls aus dem Jahr 1989, von meiner Geburtstagsfeier am 11. November, als 1,5 Tage nach dem Einsturz der Mauer: dass wir, wenn wir Rentner sind, wieder in Kellern sitzen und bei Bombenangriffen in ihnen Schutz suchen werden. Aber ich werde erst in vier Jahren Rentner, und ich suche jetzt schon in Kellern Schutz vor Bomben. Aber ich mache des quasi freiwillig. Zählt das oder zählt das nicht?

Denken als Beruf (3)

Poltawa, 31.08.2025 (kein Luftalarm)
Gestern redete ich längere Zeit mit meiner Kwas-Verkäuferin. Sie hat 40 Jahre lang als Kinderärztin gearbeitet und erhält eine Rente von 2700 Griwna (56 Euro). Zum Weinen. Ihre Tochter lebt und arbeitet als Sprachlehrerin seit einigen Jahren in Schweden. Sie will ihre Mutter nach Schweden holen, doch diese zögert, weil sie kein Schwedisch kann und hier in Poltawa ihre Freundinnen leben.
Die Arbeit als Kwas-Verkäuferin ist hart – je heißer es ist, desto mehr muss sie arbeiten. Sie sitzt da ungeschützt vor ihren Fässern, in der prallen Sonne und bei scharfem Wind, führt immer wieder die gleichen Bewegungen aus. Eine Prämie bekommt sie nicht, wenn sie viel verkauft, auch keine Gewinnbeteiligung. Natürlich ist sie auch nicht krankenversichert.

Harter Schnitt:
Unerlässlich für die Analyse solch unendlich komplexer Materie wie einer menschlichen Gesellschaft ist das sogenannte interdisziplinäre Denken. Es wird oft gefordert, aber selten praktiziert. Wie fatal sich das auswirkt, das zeigt auch dieser Krieg.
Beispiel: Unter Hunderten Osteuropawissenschaftlern, Slawisten. Militäranalytikern findet man höchstens ein Dutzend mit volkswirtschaftlichen und makro-ökonomischen Kompetenzen UND praktischen Erfahrungen in Industrie und Landwirtschaft, ob als Berater oder Forscher. (Rühmliche Ausnahmen: Anna Veronika Wendland und Andreas Umland)

Jahrelang haben sich ausländische Reporter in der Ukraine-Berichterstattung am sogenannten „Sprachenkonflikt“ abgearbeitet, fast hätte ich geschrieben: aufgegeilt. Für Ukrainer stand dieser „Konflikt“ unter den 30 wichtigsten Lebensprobleme an 29. Stelle (an 30. der Feminismus).
Die Damen und Herren Ausländer surften und planschten gerne, aber mit solider Ausrüstung in die Tiefe zu tauchen, dafür waren sie zu faul oder zu ängstlich.
Die wichtigsten Lebensprobleme waren ökonomische und soziale, und zwar in allen Regionen. Die niedrigen Einkommen und Renten, die Gefahr krank zu werden und Medikamente nicht kaufen zu können, die Schwierigkeit normal bezahlte Arbeit zu finden, die kaputten Straßen (dadurch hohe Reparaturkosten für Autos und Verzögerung von Krankentransporten).

Aber Ökonomie ist nicht sexy, und Armut schambesetzt. Also macht man aus dem kulturellen Schatz der Zweisprachigkeit einen angeblich existenzgefährdenden Konflikt. Um diesen Claim auszubeuten genügt angelesenes Halbwissen.

Ökonomische Kompetenz, das bedeutet im Falle der Ukraine und des bösen Nachbarn aus dem Norden auch: die Schattenwirtschaften zu studieren, die Transformationen des kriminellen Kapitals, die Geldwäsche-Rituale, die doppelten Buchführungen und insbesondere auch die Voraussetzungen für „Korruption“ – ein Phänomen, das meines Wissens NOCH NIE substantiell dargestellt wurde, sondern entweder im (berechtigten) Gestus der Empörung, also moralisch, oder juristisch, unter Aspekten der Gewaltenteilung und der Kontrolle, aber eben nicht ökonomisch. Man sieht auf die Spitzen der Pyramiden, aber nicht auf die Fundamente.

Jungs suchen Gefahren

B., Oblast Charkiw, 18.08.2025
Jungs, sage ich nur. Gestern sind wir in die 20er-Zone gefahren, weniger als 20 Kilometer von der Null-Linie entfernt. Dorthin, wo das Risiko sehr real ist, von todbringenden Vögelchen besucht zu werden. Warum sind wir dorthin gefahren? Um uns eine Sehenswürdigkeit anzusehen, einen Staudamm. Für eine Stunde spielten wir Touristen. Es war überhaupt nicht nötig, uns in Gefahr zu bringen. Die Kämpfer, die wir dorthin begleiteten, probierten dort unsere Tarnnetze aus. Wobei wir sowieso nicht helfen können und müssen.
Und was machen meine Jungs auf der Rückfahrt? Sie suchen die nächste Gefahrenzone auf und sammeln Trophäen ein. Siehe Foto. Die Hülsen und Raketenreste werden von Künstlerinnen bemalt und dann verkauft, um wieder Geld für das Material für die Netze zu bekommen.

Auf die „große“ Politik achte ich nur nebenbei. Dass eine Tragödie nicht als Farce enden kann, erklärt sich ja eigentlich von selbst.

Für den Generator habe ich bisher 580 Euro bekommen. Wir brauchen 912 Euro.
Und wir brauchen dringend einen weiteren Kleinbus, um die Arbeitsmöglichkeiten einer Einheit zu verbessern, die zum Teil aus Männern unserer Siedlung besteht. Sie waren daran beteiligt die kürzlich erfolgten Geländegewinne der ruzzen auf unserer Höhe zu „korrigieren“.

Bitte, liebe Leute da draußen, schaut nochmals in eure Portemonnaies oder auf eure Konten !!! Leider ist der Kampf für unsere Freiheit sehr teuer. Wir sind für jede Hilfe dankbar.

CHF: CH360026926980003440V, Inhaber: Oleksandr Volkov (oder einfach per Twint an +41794829258)

PayPal: https://www.paypal.com/paypalme/raxarov

Oder: EUR: DE95100500004114595657, Inhaber: Christoph Brumme

Betreff „Ukraine-Hilfe Poltawa“

Herzlichen Dank! #supportukraine

Gespräch mit einem betrunkenen Veteran

B., Oblast Charkiw, 22.08.2025
Der Freund ist besoffen und klagt: „Ich bin ein Nichts, mein Leben hat keine Bedeutung.“
Keine Floskel hilft gegen die offensichtliche Depression. Mindestens ist er doch für mich ein besonderer Mensch, hat er für mich eine besondere Bedeutung. Und jahrelang hat an der Ostfront „gearbeitet“, Feinde eliminiert, Kameraden gerettet, seine Nächsten und Menschen im Hinterland beschützt. Ein besonderes, einzigartiges Schicksal. Aber er empfindet es nicht so.
„Ich bin ein Nichts, weil ich nichts verstehe“, klagt er. Er verstehe die Zeiten nicht, nicht die Politik, nicht die Verhandlungen.
„Teurer Freund“, sage ich, „du glaubst vielleicht, dass andere Leute, etwa die Politiker die Zeiten verstehen. Aber da irrst du dich. Die verstehen ihre eigenen Entscheidungen auch nicht. Oft können sie nicht wissen, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben. Und wenn sie sich einbilden es zu wissen, belehrt sie der nächste Tag eines Besseren oder Schlechteren. Die Wahrheit ist: Niemand versteht alles. Und wenn man nicht alles versteht, versteht man oft das Wichtigste nicht. Das ist natürlich ein deprimierendes Gefühl, als würdest du ertrinken oder ersticken.“
„Ich will nicht ertrinken, ich will mit dir fliegen“, sagt der Freund.
Na bitte, schon besser.
„Ich fliege mit dir überall hin“, sage ich, „wohin du willst“.
Er streckt die Arme aus und zeigt, wie wir fliegen werden, mindestens einhundert Meter weit, meint er. (Wobei er mir fast die Brille aus dem Gesicht schlägt, so nah vor mir streckt er seinen rechten Arm aus.)
Einhundert Meter, das klingt, als wolle er nach Hause fliegen.
Die anderen Freunde am Tisch lachen zuerst über seinen Wunsch, selbst zu fliegen. Sie haben nicht aufmerksam zugehört. Er will über dem See fliegen, an dessen Strand er Zuckerwatte verkauft und Katamarane vermietet. Er will, dass die Katamarane fliegen. Der See ist vielleicht dreihundert Meter lang. Wahrscheinlich ist die Idee des Freundes machbar. Er bastelt gern an Motoren und Maschinen herum. Neulich hat er sein Motorrad auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Dann hat er sich mal wieder besoffen und ist mit dem Motorrad nachts gegen einen Zaun gefahren.

Traumtänzerei und Erbsenzählerei

Berlin, 25.07.2025
Neuer Absatz in meinen Vortrag über das Überleben im Krieg und das Verstehen des Krieges:
Zeige die wichtigsten Eigenschaften und Schwächen des „Westens“ im Verhältnis zu ruzzland, insbesondere das verkümmerte Bewusstsein für Gefahren: Diese Mischung aus Gutmütigkeit und Gier, Selbstzufriedenheit und Traumtänzerei, Erbsenzählerei und Rausch der Sinne, Unwissenheit und Bauchgefühlen, Journalismus und Stiller Post.
Geschenkte Siege sind gefährlich, so auch der „Sieg“ des Westens gegen die östlichen kommunistischen Tyranneien. „Sieg“ in Anführungsstrichen, weil der Westen die Moskowiter und ihre Vasallen ja nicht aktiv bekämpfte, sondern nur die verfügbaren Instrumente zeigte (siehe Ronald Reagans Rüstungsinitiativen und dessen Spruch von der Sowjetunion als Reich des Bösen).
Wie Friedrich Nietzsche schon wusste, schneidet im Sozialismus das Leben sich selbst die Wurzeln ab. Zentral gelenkte und repressive Volkswirtschaften sind nun mal weniger produktiv und attraktiv als marktwirtschaftliche. Bill Gates als sowjetischer Ingenieur, der in einer Garage systemgefährdende Technologien entwickelt – das kann nur in einem fantastischen Roman der Strugatzkis vorkommen.

Die Mauern „fielen“, wurden erstürmt und eingerissen; die Leute im Westen freuten sich über das Ende der Geschichte (mich begrüßten sie mit Chamapagner in West-Berlin hinter der Bornholmer Brücke).
Wie bitte, das Ende der Geschichte? Das war doch in den 1980er Jahren unter französischen Philosophen schon eine modische These gewesen, die auch Heiner Müller gerne zitierte.
Geschichte im Sinne von „Fortschritt“? Von Revolutionen sei nichts Fortschrittliches mehr zu erwarten, sie wären keine „Lokomotiven“ mehr. (Dampflokomotiven)
So lange es Menschen gibt, so lange wird es Geschichte geben, dachte ich, selbst wenn sie nicht von Menschen verstanden und erzählt werden kann. Eigentlich banal.
Die Sieger wussten FAST NICHTS ÜBER DEN OSTEN, über die Wirklichkeiten in den Warschauer-Pakt-Staaten. „An dieser Kröte wird der Westen sich verschlucken“, meinte Heiner Müller.

Aber die Kröte wollte ja verspeist / einverleibt werden, insofern war es eine schiefe Metapher.
Heute kaum zu glauben, aber der Präsident der USA versuchte den Ukrainern ihr Streben nach Unabhängigkeit AUSZUREDEN! Im Parlament in Kyiv! Um Gorbatschow nicht zu ärgern, nicht zu schwächen. Und die Amerikosen waren so gutmütig, ruzzland DAS MONOPOL an Nuklearwaffen zu geben. Statt weise nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ zu handeln. Völlig irre, aus heutiger Sicht. Der schlimmste Fehler des Westens, den die Leute, die über Fehler des Westens schwafeln, NIEMALS NENNEN.

usw., usf.

Immanuelkirche

Berlin, 22.07.2025
Gestern war die Veranstaltung in der Immanuelkirche. 70 mir offenbar freundlich gesonnene Menschen waren dort. Statt der geplanten 40 – 50 Minuten redete ich 90! Ich fragte nach 50 Minuten, ob ich weiter erzählen soll oder ob wir diskutieren wollen. Die Entscheidung war eindeutig, also gut. Anfangs war ich unsicher gewesen, denn es ist so ungewohnt, Deutsch zu sprechen.

Zuerst zeigte ich Fotos, einige von meinen Radtouren, Kohlearbeiter, Ukrainer in Wartehäuschen vor Mosaiken, zerstörte Brücken im Krieg, ein brennendes Haus in Poltawa, meine Arbeit als Freiwilliger, die fleißigen Großmütter, Dima Bandurist …

Fast auf den Tag genau vor 40 Jahren war ich in das Haus gegenüber der Kirche gezogen, d.h. ich hatte eine leere Wohnung besetzt, die mir ein befreundeter Schauspieler empfohlen hatte, der nach Brasilien ausreisen wollte, – und tatsächlich bekam er 1988 die Genehmigung zur Ausreise, tatsächlich lebte er dann einige Jahren in Brasilien, aber dort erkrankte er bald schwer und verstarb sehr früh.
Wahrlich, das waren finstere Zeiten! In meiner Wohnung gab es keinen Strom. Aber in der leer stehenden Nachbarwohnung. Also bediente ich mich dort. Komponisten dürfen Notenblätter klauen, Skribenten Licht stehlen.

Jetzt durfte ich in dieser Kirche gegenüber reden, allerdings aus makabren Gründen. Ich habe mich auf zwei Aspekte des Krieges konzentriert, auf das Überleben im Krieg und auf das Verstehen des Krieges, jenseits aller Gefühle und aller Moral. Also nicht über das bewaffnete Kämpfen, damit habe ich keine Erfahrungen. Oder über die Versorgung von Verwundeten. Oder über Sport im Krieg.
Nein, überleben und verstehen, das sind zwei der Aspekte, über die ich einigermaßen kompetent sprechen kann.

Armut

Poltawa, 5.7.25 – Armut
Was man auf der Straße so im Vorübergehen hört.
Frau 1: War es teuer?
Frau 2: 35 Griwna. (80 Cent.) –

Was würde man in Deutschland als teuer bezeichnen, bei einem Preis von 80 Cent? Eine Kugel Eis? Eine Schrippe?
Wenn hier jemand die Mindestrente bezieht, dann sind 80 Cent womöglich das Tagesgeld frei verfügbaren Geldes. Und wenn die Großmutter mit ihrem Enkel spaziert und der ein Mohnbrötchen haben möchte, dann sprengt das vielleicht schon das Tagesbudget.
Das sind die Dramen des Alltags. Wie zu Zeiten von Victor Hugo, Die Elenden, frühes 19. Jahrhundert. Aber unzählige ausländische Tagesgäste (Reporter) schrieben über unser Land: Das wichtigste Problem ist die Zweisprachigkeit. Herrgott noch mal, was für ein Unsinn. Hunger tut in jeder Sprache weh, aber Armut ist nicht sexy.

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