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Interview von 2015 – leider immer noch aktuell

Gut gealtert: Mein Interview von 2015 für coloRadio – ein freies nichtkommerzielles Radio, wo Dutzende „Radiomachende“ ihre Sendungen in ihrer Freizeit produzieren. Jetzt wollen sie wieder mit mir sprechen. Deshalb hörte ich mir das Interview jetzt an – über meine Radreise 2014 Richtung Front.

Ich muss nichts aus dem damals Gesagten korrigieren, gutes Zeichen. Keine Irrtümer, keine Fehleinschätzungen. Schlimm nur, dass es streckenweise um den gleichen Unsinn ging, der auch heute noch in vielen Köpfen wabert – siehe insbesondere die letzten drei Minuten über deutsche Journalisten, die Falschinformationen verbreiten, und über prominente Friedensschwurbler in Deutschland. Schon damals musste ich darauf hinweisen, dass „in ruzzland Militärs, Politiker und sogar Priester der orthodoxen Kirche regelmäßig mit der atomaren Auslöschung westlicher Staaten und mit dem Atomkrieg drohen. Die Nato „droht“ sich zu verteidigen, uns zu verteidigen. … Jeder Mensch in Deutschland, der der Meinung ist Verständnis für die furchtbare Politik ruzzlands äußern zu müssen, sollte sich überlegen: Was würden die Deutschen machen, wenn eine fremde Macht ihr Land überfällt und auf sie geschossen werden würde? Mit Kuchenkrümeln werfen? Reden, Dialog führen? Oder sich verteidigen?“

https://www.freie-radios.net/68500

Poltawa, 19.05.2025
Über das Ende des Krieges
Ich habe ja schon vor drei Jahren beschrieben, dass und warum dieser Krieg viele Jahre dauern wird, womöglich Jahrzehnte. Die Illusionen im Westen, man könne mit dem kollektiven putin Kompromisse schließen oder nach militärischen Niederlagen auf ukrainischem Boden dazu bringen klein beizugeben, ist m.E. Traumtänzerei.
Ich verstehe, dass Befürworter militärischer Hilfe für die Ukraine aus taktischen und politischen Gründen die Hoffnung hegen, der kollektive putin würde irgendwann einmal akzeptablen Vereinbarungen in Verhandlungen zustimmen und diese dann auch einhalten und / oder dank „Sicherheitsgarantien“ zu ihrer Einhaltung gezwungen werden können. Aber das ist nur Augenwischerei; man hat weder ruzzland noch den Putinismus verstanden, wenn man das glaubt.
Doch um die Bevölkerung im Westen zu motivieren, der Ukraine im erforderlichen Umfang zu helfen, ist es sicherlich gerechtfertigt, sich der Illusion hinzugeben, der kollektive putin werde womöglich irgendwann erkennen, dass eine Fortführung des Krieges zu teuer wird und er deshalb „einlenkt“. Aber es ist eben doch nur eine Illusion, trotz aller „Konfliktforschung“.
Der Krieg, ich beschrieb das nach Beginn der Invasion, kann nur enden nach einer Entmilitarisierung und Entnazifizierung bzw. -putinisierung ruzzlands, d.h nach einer bedingungslosen Kapitulation Moskaus und anschließender internationaler Verwaltung des Landes bspw. durch die UNO oder eine ukrainische Militärmacht.
Nach einer Veranstaltung bei der Naumann-Stiftung im Sommer 2023 berichtete über diese meine Ansicht auch der Merkur, bösartig meinen Namen mehrmals als „Krumme“ schreibend:
„Brumme ist Betroffener. Er lebt in der Kleinstadt Poltawa, sagt von sich, dass ihm die Ukrainer vom Wesen näher sind als die Deutschen. Seine Kritik an den Deutschen ist deutlich. Er wirft der Politik Zögerlichkeit vor und bezeichnet das Aufführen der Opferzahlen als „makabres Hobby“. Die ukrainische Armee sei der russischen taktisch überlegen, sie rette im Gegensatz zu den Russen ihre Verwundeten. Die russische Führung bezeichnet Krumme als „Spinnen, die in einem Glas sitzen und sich selbst auffressen“. Zur Lösung des Konflikts urteilt Krumme: „Der ideale Weg wäre, wenn Russland kapituliert, demilitarisiert und entputinisiert wird und unter internationale Verwaltung kommt – wie einst Hitler-Deutschland.“

Nun hat Alexander Newsorow den gleichen Befund erstellt: „ruzzland hat aller Welt bewiesen, dass es in seiner gegenwärtigen Form eine reale, große und ewige Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellt. … Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise außer durch einen globalen Krieg. Und durch eine globale Niederlage ruzzlands. Einen anderen langfristigen Ausweg gibt es nicht.“ Wie realistisch das ist, kann Newsorow auch nicht sagen. Natürlich nicht, denn angesichts der in ruzzland so beliebten Liebäugelei mit dem Einsatz von Nuklearwaffen versagt jede Wahrscheinlichkeitsrechnung.

In Deutschland hat jetzt mal Paul Ronzheimer die wahrscheinlichste Variante des Krieges kurz angedacht, bei X (Twitter):
„In den politischen Debatten zu Putin und der Frage, was in der Ukraine passiert, ergibt sich auf beiden Argumentations-Seiten eine Erschöpfung. Diejenigen, die argumentieren, dass man Putin mehr entgegen kommen sollte (Gebiete, andere Verhandler, Weniger Sanktionen etc), müssen erkennen, dass Putin bislang zu keinem Zeitpunkt bereit war, seine Maximalforderungen zurückzunehmen, egal, was man ihm angeboten hat. Diejenigen, die argumentieren, dass mehr Sanktionen und mehr Waffen an die Ukraine Putin zum Umdenken bewegen, müssen erkennen, dass dies bislang keinen Erfolg hatte (auch wenn man natürlich argumentieren kann, dass es in der Vergangenheit längst nicht genug Unterstützung war). Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen: Was ist, wenn egal welchen Weg wir gehen, Putin den Krieg weiterführen wird? Russland also bereit wäre, für weitere Jahre Krieg? Und was ist, wenn es dann in Monaten/Jahren auch um die Frage geht, dass der Ukraine Soldaten fehlen?“

Nichts wird den kollektiven putin zum Umdenken bewegen, liebe deutsche Traumtänzerinnen und -tänzer. Viel wahrscheinlicher ist es, dass selbst nach verheerenden Niederlagen und einem eventuellen Vormarsch der Ukrainer auf Moskau der Kriegsherr im Kreml wie Hitler im Bunker Armeen befehligen wird, die nur noch auf dem Papier existieren. Auch das schrieb ich schon vor drei Jahren, und auch ich als Einzelkämpfer bin schon erschöpft davon, das immer wieder zu sagen.
Video „Newzorow über die Wahrscheinlichkeit eines Waffenstillstandes“, 5:30 min, siehe 1. Kommentar

https://www.youtube.com/watch?v=H3plzTPyjJY

https://www.merkur.de/bayern/schwaben/kempten-westallgaeu-kreisbote/das-dilemma-der-ukraine-friedrich-naumann-stiftung-haelt-podiumsdiskussion-im-allgaeu-art-hotel-ab-92385202.html

Poltawa, 12.05.2025

Im Chatroulette erzählt ein Mann aus Kaliningrad, dass eine Bekannte von ihm ihren Sohn in den Krieg geschickt hat. Bald wurde er Sohn getötet, sie bekam eine hohe Prämie, 13 Millionen Rubel. Endlich könne sie normal leben, erzählte sie und eröffnete ein Geschäft, wovon sie schon lange geträumt hatte: ein Geschäft, in dem „Lippen gemacht“, also wohl mit Hyaluronsäure aufgespritzt werden.
Ob der Sohn ein Alkoholiker gewesen war, das wusste der Mann aus Kalingrad nicht, er kennt nur die Mutter. Falls ja, so hätte der Sohn ja im Sinne des illegitimen Präsidenten gut gehandelt – lieber fürs Vaterland sterben als an Alkoholismus.

Freiheit und Rohstoffe – Putins Russland fühlt sich zu Recht vom Westen bedroht

Nein, der Westen bedroht die russische Sicherheit nicht. Trotzdem fühlt Putins Russland sich zu Recht vom Westen bedroht – so wie die Bundesrepublik seinerzeit auch eine Bedrohung für die DDR darstellte.

Mein neuer Artikel bei N-TV:
Wäre der Krieg in der Ukraine nicht so blutig, so könnte man ihn als absurdes Theaterstück begreifen, in dem alle Protagonisten überfordert sind, alle an ihren Aufgaben scheitern und ihre eigenen Handlungen nicht begreifen – mit Ausnahme der geschändeten Ukraine.

Das war knapp

Poltawa, 23.04.2025
Bisschen makaber: Ich höre vorm Einschlafen „Den Tod verstehen und akzeptieren – mit Dr. Mark Benecke». Er ist Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe und ein faszinierender analytischer Denker. Ich habe schon einige Vorträge von ihm gehört, so über das Artensterben und über den Gerichtsmediziner Otto Prokop, der, obwohl Österreicher, in der DDR Lehrstuhlinhaber an der Charité gewesen war und zusammen mit Gerhard Uhlenbruck das ungemein wichtige „Lehrbuch der menschlichen Blut- und Serumgruppen“ schrieb.
Nach ca. der Hälfte des Gesprächs bin ich aber doch müde, schalte das Notebook aus, presse mir die Ohropax-Stöpsel in die Ohren und möchte schlafen. Da ertönt das mir inzwischen gut bekannte Geräusch eines „fliegenden Mopeds“, einer Shahed-Drohne. Ich öffne die Ohren; das knatternde Geräusch wird lauter und lauter, als würde es direkt auf mich zukommen. Habe ich Idiot etwa die Geolokalisierung eingeschaltet? Dann ein lauter Knall, zitternde Wände, das Klirren von Fensterscheiben. Es könnte das Nachbarhaus getroffen sein oder das eigene in den oberen Etagen. Draußen laufen einige Menschen auf die Straße. Ich ziehe mich an, nehme den Notfall-Rucksack, gehe ebenfalls raus. Nach einigen tastenden Schritten – ist eigentlich Sperrstunde? – knirscht Glas unter meinen Schuhen. Schon in unserem Nachbarhaus sind etliche Fensterscheiben zerbrochen. Von dort aus sehe ich auch schon den Ort des Einschlags, ein Haus, in dessen Erdgeschoss kürzlich noch ein Geschäft gewesen war, in dem ich regelmäßig einkaufte. Nun brennt es „licherloh“ vom Dach an abwärts. …

„Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“

Poltawa, 21.04.2025
Gestern langes Gespräch mit Lena, deren Gatte Pascha seit neun Monaten vermisst wird. Sie wirkt deutlich gefestigter als bei unseren vorigen Treffen. Die beiden hatten eine solch symbiotische Form der Liebe, dass man sie dazu nur beglückwünschen konnte. Sie küssten sich leidenschaftlich, und sie stritten leidenschaftlich, und manchmal knurrten sie sich nur an; aber es war offensichtlich, dass sie nicht ohne einander sein konnten.
Nachdem Pascha von einem Kampfeinsatz in heute besetzten Gebieten nicht zurückgekehrt war, brauchte Lena Zeugen, die ihre Liebe notariell bestätigten, da sie nicht standesamtlich verheiratet gewesen waren, um die Witwenrente oder irgendwelche „Entschädigungszahlungen“ zu erhalten. Sie gab auch mich als Zeugen an, und ich bezeugte natürlich die Wahrheit.

Ob Pascha noch lebt? In unseren Herzen ganz sicher, denn solch einen einzigartig leidenschaftlichen Menschen kann und möchte man nicht vergessen. Obwohl wir beide uns „vom Sehen“ schon seit dem Jahre 2007 kannten, seit meiner ersten Radreise nach Poltawa, freundeten wir uns erst während des Krieges an, nach der Aufhebung des Alkoholverbots im Frühjahr 2022. Bis dahin hatte ich es vermieden, in den „Kern“ der philosophischen Gesellschaft im Biergarten einzudringen, denn ich ahnte: Diese Stammgäste könnten mich mit ihrer Liebe, Aufmerksamkeit und Neugierde erdrücken. Und ich fürchtete, mich vom romantischen zum Gewohnheitstrinker zurückzuentwickeln. In den ersten Kriegsmonaten war mir das dann aber völlig egal. Da man sowieso jeden Moment ermordet werden konnte, konnte man auch bis zum letzten Moment fröhlich sein. Und im Krieg sind Gemeinschaften ja ungeheuer wichtig; es tut gut, einander zu helfen; Selbstlosigkeit erhöht die Lebenschancen; Einsamkeit dagegen ist ein schreckliches Gift.
So lernte ich dann in Paschas Biergarten viele mir inzwischen sehr wichtige Menschen kennen und lieben.

Im Krankenhaus erzählte mir eine Putzfrau, dass sie im Donbas eine Zeitlang unter ruzzländischer Besatzung gelebt habe. Sie habe einen Besatzer wütend gefragt, was die hier wollten. Der ruzze habe geantwortet: „Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“
Eine Begründung für die Invasion, die man ja schon oft gehört hat. Dem sklavischen Bewusstsein muss jemand eine Erlaubnis dafür erteilen, gut zu leben. Der Vergleich „besser / besser als wir“ ist aber gar nicht so sinnlos, wie er sich anhört. Tatsächlich haben mutige Ukrainer immer wieder, wie auf dem Maidan, unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, nicht so leben zu müssen wie die ruzzländischen Geschöpfe – nicht rechtlos vor Gericht, nicht hilflos gegenüber räuberischen Polizisten, sondern als freie Individuen. „Wer hat euch erlaubt, frei zu sein?“, das bedeutet die Frage des Besatzers ebenfalls.

Luftalarm.

Das Herz u.a.

Poltawa, 20.04.2025
Beleidigende und kostbare Erfahrung: Ich bin nicht unsterblich. Gevatter Tod hat mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht geblasen. Die Pumpe pumpte nicht so wie sie es immer getan hatte. Krankenhäuser kannte ich bisher nur als Besucher – nur für das Herausreißen der Mandeln im Alter von acht Jahren hatte man mich dort mal interniert. Nun der Schock: Mein Herz ist doch nur so schwach wie ein Spielzeughämmerchen. Lange schon vorbei die Zeit, da ich 340 Kilometer in einer 24-Stunden-Etappe mit Gepäck auf dem Fahrrad radeln konnte.
Ausgerechnet am Karfreitag wurde ich aus dem Krankenhaus „in die Freiheit“ entlassen. Der erste bekannte Mensch, den ich zufällig auf dem Basar traf, war Freund Vitja „Tankist“. Er musste ins Krankenhaus (!), um dort ein ärztliches Attest abzugeben. Seine Rehabilitation nach seiner Verwundung an der Donbas-Front ist immer noch nicht abgeschlossen. Nach diesem Termin hatte er freie Zeit, und wir verabredeten uns bei mir zu Hause.
Vitja ist in seiner gesamten Erscheinung, in all seinen Eigenschaften und Verhaltensweisen, ziemlich genau das Gegenteil eines „Kriegers“, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt – stets freundlich, nie aufbrausend oder fluchend, nie grob vereinfachend. Auf primitive Meinungen anderer antwortet er wie ein geschulter Psychologe, indem er die dumme Äußerung freundlich wiederholt und dann auf die Vielzahl der Möglichkeiten verweist, die man außerdem noch prüfen oder erörtern könnte.
Nun, wir tranken etwas Piraten-Rum und redeten vor allem darüber, was für ein seltsamer, teils chaotischer Organismus das ukrainische Militär derzeit ist und sein muss. Viele Menschen haben ja ideale Vorstellungen vom „großen Ganzen“ und suchen Schuldige für das Versagen des Systems, eine Garantie für unstillbare Unzufriedenheit. Vitja ist viel zu weise und erfahren dafür, sein Sinn für Komik ist dafür viel zu stark ausgebildet. Ich glaube, er genießt es auch als Absurdität, dass er die gefährlichen Kämpfe überlebt hat, denn ein paar Mal war das „sehr knapp“ gewesen.
Wir spazierten dann ins Zentrum und trafen Artjom, der einen kurzen Urlaub bekommen hatte. Er ist zwar in Frontnähe stationiert, aber dort erfüllt er technische Aufgaben, wie es seinen Begabungen entspricht. Geschossen hat er bisher nur auf Trainingsplätzen.
Während die beiden Freunde übers Militärische fachsimpelten, probierte ich schon Formulierungen aus für das Radio-Gespräch bei Bremen 2 am nächsten Tag. Das lief tatsächlich ganz gut, und es war mir ein Vergnügen, in der Live-Sendung die Verhandlungen mit den ruzzländischen Staatsterroristen als „absurdes westliches Theater“ zu verspotten. Der Redakteur war auch sehr angetan und hätte gern länger mit mir geplaudert, versicherte er mehrmals ziemlich glaubwürdig.
Leider ist der Krieg für mich ja kaum noch eine intellektuelle Herausforderung, so zynisch es klingen mag, dass er eine sein sollte. Ich wundere mich zwar oft darüber, dass im Westen nach wie vor das Wesen des Putinismus als viel zu lieblich und human definiert wird und dass diese närrischen Selbstgespräche über Hoffnungen auf Frieden so populär sind, aber die Gründe dafür zu begreifen ist ja eigentlich auch nicht schwer.
Gestern Abend war ich noch im Kulturzentrum, wo Sascha seinen Geburtstag feierte, u.a. mit einem Vortrag über die britische «Post-Punk- und Synthie-Pop-Band“ Japan, von der ich natürlich noch nie etwas gehört hatte. Diese Abende dort sind eigentlich immer inspirierend und (ent-)spannend. Jeder Mensch trägt ein Universum in sich, das spüre ich dort immer wieder (oh je, bisschen verkitscht gesagt).
PS. Faszinierend, wie gut die Behandlungen im Krankenhaus waren. Ich kann aber öffentlich nicht darüber berichten, sonst, so meinte Vitja, würde ich den „Medizintourismus aus Deutschland“ fördern.

Kriegsgründe

Poltawa, 01.04.2025
Bei Facebook schreibt ein an sich kluger Geist, die „Hauptursache“ des Krieges sei ein „Sicherheitsdilemma“. Im Schach würde jemand, der in einer durchschnittlich komplizierten Situation nur eine Hauptvariante erkennt, nicht einmal in der Kreisklasse mithalten können. So antworte ich dem Mann:
Unter den zehn wichtigsten Hauptursachen des Krieges dürfte ein militärisches „Sicherheitsdilemma“ an letzter Stelle stehen. Die für Russlands Existenz als Zentralstaat und Kolonialreich schlimmste Gefährdung dürften knallharte ökonomische Gründe sein, die man im Westen aufgrund enormer Wissenslücken beständig übersieht, so bspw. die Folgen des Green Deal zwischen der EU und der Ukraine, womit Russlands wichtigstes Geschäftsmodell, der Verkauf fossiler Brennstoffe und Energieträger, in absehbarer Zeit nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Außerdem war die Ukraine für Russlands kriminelles Kapital eine ideale Geldwaschmaschine. Je besser die Ukraine in die EU-Wirtschaften und Rechtspraktiken integriert wird, desto schlimmer für Russland. Will man die Kriegsgründe verstehen, so sollte man zunächst Russlands ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung studieren – und bspw. den Wert der Kriegsbeute abschätzen, die Russland mit einem Sieg zu gewinnen hofft, worin eingeschlossen sind: Bodenschätze, Rohstoffe, Wasser für die Krim, Anbauflächen für Getreide, Häfen, Fabriken, Immobilien, Arbeitskräfte.
Eigentlich sollte man in Deutschland den Unterschied zwischen Drohungen und Bedrohungen sehr gut verstehen, nämlich aus der Zeit des Kalten Krieges. Die alte BRD hat der DDR kaum gedroht, schon gar nicht mit militärischen Mitteln, dennoch war sie die schlimmste Bedrohung für die Existenz der DDR – aufgrund ihrer wirtschaftlichen Attraktivität, ihrer Innovationsfreudigkeit, ihrer Freiheiten in Kultur, Sport und Kunst. Dies gilt auch für den heutigen Krieg – die Ukrainer „drohten“ zuletzt sogar materiell besser zu leben als die Russen; eine schwerere Kränkung ist für die selbsternannten ewigen Sieger kaum denkbar. Putin-Russland fühlt sich vom Westen erniedrigt, weil es sich objektiv gesehen in einer erniedrigenden Position gegenüber dem Westen u.a entwickelten Nationen befindet. Es kann im friedlichen Wettbewerb mit anderen Ländern nicht mithalten, deshalb will es mit Mitteln der Gewalt die Entwicklung im „nahen Ausland“ be- bzw. verhindern. Es kann im Krieg mehr gewinnen als es im Frieden verlieren würde. Russlands Sicherheit wurde vom Westen stärker durch Softpower, Popkultur und Heiratstourismus bedroht als von westlichen Armeen, die sowieso nie die Absicht hatten Russland anzugreifen.

Drohnen in der Nacht

Poltawa, 30.03.2025
Gestern auf dem Heimweg habe ich regelrecht Hass empfunden; ein Gefühl, das ich sonst ja zu vermeiden suche, selbst angesichts der schlimmsten Greueltaten. Hass mindert bekanntlich die eigene Souveränität; Hass fressen Seele auf.
Auslöser für den Hass waren die über unserer Stadt fliegenden Drohnen der ruzzen, welche deutlich zu hören waren, wie auch das Abwehrfeuer unserer Verteidiger. Bereits in der Nacht vom 27. auf den 28. März hatten die ruzzen 13 Drohnen gezielt auf Wohngebäude sowie Unternehmen der Öl- und Gasindustrie bei uns in Poltawa geschossen.

Eine gute Bekannte ist neulich mit ihrer pflegebedürftigen Mutter nach Deutschland ausgereist, und sie klagte gestern, wie schwer ihre Sitution dort sei. Als ich ihr schrieb, sie möge vielleicht doch zurückkommen, hier haben sie doch ein großes Haus, da antwortete sie:
„In Poltawa kann es sein, dass man nach nächtlichem Beschuss nicht mehr aufwacht. Am 8. März um Mitternacht wurden wir so sehr beglückwunscht, dass in meiner Straße, 150 Meter von meinem Haus entfernt, die Fenster herausflogen und das Feuer zwei Tage lang gelöscht wurde.“
Ich musste an die vielen senil-konfusen Diskussionen in Deutschland denken, womit und in welchem Umfang man den Menschen in der Ukraine helfen solle. Ich wünschte mir, dass einige der Unschuldigen mit den blutigen Händen zusammen mit mir durch den nächtlichen Park nach Hause gehen müssten, begleitet vom Sirren des Todes. Nichts ekelt mich so sehr wie diese „Unschuld“ der „Unterwerfungspazifisten“ (R.Fuecks), derer, die sich einbilden, die Lage hier bei uns beurteilen zu können und moralisch sich gebende Empfehlungen auszusprechen; eben ihre Hände in Unschuld zu waschen. Einige dieser öffentlich bekannten Figuren kenne ich ja persönlich. Manchen gestehe ich sogar zu, dass sie nicht wissen, was sie tun; aber unverzeihlich ist, dass sie es nicht wissen wollen – dass es ihnen an Demut fehlt, weil ihre Eitelkeit die Fähigkeit zur Selbstkritik einschläfert. Ihre gequetschten Gefühle sind ihnen wichtiger als das Leid der Ukrainer.
Ekel ist ein weit produktiveres Gefühl als Hass.

Dabei war es bis zum Heimweg ein gelungener Tag gewesen, mit groartigen Gesprächen und feierlichen Reden. Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Komplimente gehört wie gestern anlässlich meiner Ausstellung, so viele Respektbezeugungen, darunter auch von geschätzten künstlerischen Autoritäten. Ich war allerdings selbst verblüfft, wie stark die Fotos angesichts dieser klugen, aufwendigen Präsentation wirkten – vom Team „Kultura“ hatten sechs Menschen ihre Ideen eingebracht und bei der Vorbereitung geholfen, und das zahlte sich aus.

Die Schokoladentorte

Poltawa, 26.03.25
Ziemlich brutale Reise von Poltawa über Polen nach Slowjansk und zurück
Bei Isjum sind wir ins Feuer der Russen geraten. Wir fahren durch die Nacht, da leuchtet der Himmel mehrmals rot, vor uns die Einschläge der Drohnen der ruzzen, 14 in einer Stunde, wie die Agenturen später melden. Beiderseits der Straße größere Feuer, ein Wald brennt, ein Gehöft brennt. Wir fahren schon seit 16 Stunden.
Das Auto fährt sich leicht, man bekommt schnell das Gefühl, dass man der deutschen Ingenieurskunst vertrauen kann. Nichts klappert oder stört, die Armaturen sind übersichtlich, alles erscheint sinnvoll, wie mit einer bestimmten Aufgabe betreut, kein Schickschnack. Es ist ja ein Arbeitsmittel, zumal ein eingefahrenes.
Eigentlich könnten wir schon am Ziel in Slowjansk sein, aber Gentleman Serjosha wollte für seine Kollegin eine Schokoladentorte kaufen, nicht irgendeine, sondern von einer bestimmten Firma. Die hat sie sich gewünscht, die soll es sein. Wir suchten in drei Supermärkten in Poltawa und am Stadtrand von Charkiw, in allen gab es Schokoladentorten, aber nicht die von der Kollegin geliebten.
Ich sage zu Serjosha, dass ich das den Deutschen erzählen muss, dass wir hier nicht panisch durch die Nacht fahren, sondern eine bestimmte Schokoladentorte suchen, um einer Krankenschwester einen Wunsch zu erfüllen. Es kommt mir so vor, als ob ich lallend spreche, wie besoffen vor Müdigkeit.
Die Fenster des Marktes bei Charkiw sind mit Sandsäcken geschützt, gut 2,50 Meter hoch. Gleich am Eingang ein Schrank mit Büchern, das freut mich. Unter tausenden ess- und trinkbaren Produkten also auch lesbare. Märchenbücher für Kinder, Erinnerungen eines Hollywood-Schauspielers und, wenig überraschend: eine Biografie über Winston Churchill, den wahrscheinlich populärsten Politiker in der Ukraine. Keine Gedichte, auch nicht von Serhij Schadan.
Dieses Angebot an Waren, so dicht an der Front, spät in der Nacht – ein Wunder an Organisation, Fleiß und Souveränität.

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